23. April 2019
Europawahl 2019
Jörg Hofmann: Europa solidarisch und demokratisch erneuern
Um die Herzen der Menschen zu erreichen, muss Europa seine soziale Seite stärken, sagt Jörg Hofmann. Die EU müsse zur Schutzmacht der Beschäftigten in der Transformation werden. Im Gespräch erklärt der IG Metall-Vorsitzende, welche persönlichen Erfahrungen er darüber hinaus mit Europa verbindet.

Jörg, Du bist als Jugendlicher durch Europa gefahren?

Jörg Hofmann: Ja, das begann mit dem deutsch-französischen Jugendaustausch. Aber Europa war geteilt. Durchzogen von Mauern und Grenzzäunen. Und es gab Diktaturen, die mich abschreckten, nach Griechenland, Spanien oder Portugal zu reisen. Heute liegen Lissabon oder Ljubljana im Gefühl der Jugendlichen vor der Haustür. Ich hatte dann das Glück, in Paris zu studieren und ein europäisches Land somit nicht nur als Tourist kennenzulernen.


Europa ist nun offen geworden. Wie wichtig ist das?

Die europäische Einigung ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Geschichte und prägt unser Miteinander nun schon 70 Jahre. Das hat unsere Kultur, unser Gesellschaftsbild, aber natürlich auch das wirtschaftliche Miteinander bestimmt. Uns hat die Europäische Union einen enormen Gewinn an Wohlstand gebracht. Und nur als starke Gemeinschaft werden wir Europäer auch im globalen Gefüge der Zukunft noch eine Rolle spielen und unsere Werte vertreten können. Das gilt gerade auch für die Rechte der Beschäftigten.

Jörg Hofmann, Vorsitzender der IG Metall


Offene Grenzen bedeuten nicht nur, dass Menschen Urlaub machen können, wo sie wollen. Es bedeutet auch, dass Waren von einem Land ins andere gebracht werden können – ohne Hürden. Ist das gut für die Industrie? Oder schlecht, weil Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden?

Gerade für ein Industrieland mit einer starken Exportwirtschaft wie Deutschland sind die offenen Grenzen Gold wert und sichern zigtausende Arbeitsplätze. Allerdings hat viel zu lange die reine Wettbewerbslogik dominiert. Es stimmt, dass sich niemand in einen Binnenmarkt verliebt. Und für Gerechtigkeit sorgt der Markt schon dreimal nicht. Deshalb ist unsere Forderung klar: Wir brauchen ein soziales Europa, das die Interessen der Beschäftigten in den Mittelpunkt rückt.

 


Ganz grundsätzlich: Sind Arbeitsplätze in Deutschland bedroht, wenn Autozulieferer in Osteuropa Teile produzieren lassen oder Chemiekonzerne Vorprodukte in Südeuropa?

Auf dieses Spiel sollten wir uns nicht einlassen. Wir haben gesamteuropäische Lieferketten und unsere Kolleginnen und Kollegen wissen, dass wir nur stark sind, wenn sich die Beschäftigten nicht gegeneinander ausspielen lassen. Da endet unsere Solidarität nicht an nationalen Grenzen. Deshalb setzen wir als IG Metall auf die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften in Europa, auf europäische Betriebsräte. Und wir sehen, dass dort, wo Gewerkschaften handlungsfähig sind, sich auch die Entgelte und Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. Das ist der erfolgreichste Weg zur Angleichung sozialer Standards – starke Gewerkschaften in allen europäischen Ländern.


Wir wollen anders fragen: Wäre es für die Arbeiter in Deutschland besser, wenn die Grenzen dicht wären – so wie früher? Könnten dann nicht alle höhere Löhne fordern? Zumindest Populisten reden immer wieder davon.

Wozu das in der Realität führt, kann man am Beispiel des Brexit gerade sehr anschaulich beobachten. Wären die Grenzen wieder dicht, hätten wir weniger und nicht mehr Beschäftigung. Und leiden wird die britische Arbeiterklasse. Populisten versprechen einfache Antworten – aber sie bauen auf Lügen auf. Nicht Abschottung, sondern Zusammenarbeit macht uns stark. Und wenn wir in die Länder schauen, in denen Populisten vom Schlage Orbáns regieren, dann sehen wir, dass Arbeitnehmerrechte mit Füßen getreten werden, um den Konzernen höhere Profite zu ermöglichen.


Die EU legt Mindeststandards in der Arbeitssicherheit, für Arbeitszeiten und für Tarif- und Mindestlöhne fest. Ist das gut oder schlecht?

Das ist gut, aber soziale Mindeststandards genügen nicht. Die EU muss zur Schutzmacht der Beschäftigten in der Transformation werden. Dafür muss sie aktive Industriepolitik und faire Handelspolitik machen. Und es muss Schluss sein mit Angriffen auf Tarifautonomie und Sozialsysteme. Auch reine Sparpolitik im Rahmen der EU führt am Ende ins Abseits, wir brauchen mehr Investitionen in die nachhaltigen Industrien der Zukunft.


Kann Europa den nationalen Sozialstaat ersetzen?

Nein, aber Sozialdumping verhindern. Unsere Forderung nach sozialer Sicherheit richtet sich in erster Linie an den Nationalstaat, heute und in absehbarer Zukunft. Europa darf auch nicht als Abrissbirne sozialer Standards, etwa in Deutschland, missbraucht werden.


Die deutschen Gewerkschaften waren gegenüber der europäischen Idee von Anfang an aufgeschlossen. Vertreter der Gewerkschaften setzten sich für die Durchsetzung der Montanunion Anfang der 50er Jahre ein. Wie wichtig ist Dir dieses Erbe?

Wir sind stolz auf dieses Erbe und wir sehen es als Verpflichtung, auch heute als IG Metall für ein soziales Europa zu arbeiten. Ich bin überzeugt: Europa wird nur als ein soziales und solidarisches Europa eine Zukunft haben. Als ein Europa, das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Mittelpunkt rückt. Dazu braucht es auch heute den Einsatz der Gewerkschaften, um die notwendige solidarische und demokratische Erneuerung Europas voranzutreiben.


Das Interview mit Jörg Hofmann führte der Correctiv-Verlag zu seinem Buch „Von Staubsaugern und Menschenrechten – 32 Gründe, warum Europa eine verdammt gute Idee ist“.

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