6. November 2019
30 Jahre Mauerfall
„Im Osten wächst eine selbstbewusste Generation nach“
Der Kampf der IG Metall um Arbeitsplätze und den Erhalt industrieller Kerne - Interview mit Michael Ebenau vom IG Metall-Bezirk Mitte.

Du bist im Herbst 1990 als Gewerkschaftssekretär vom Westen nach Jena gegangen. Welche Situation hast Du vorgefunden, was waren deine wichtigsten Aufgaben?

Konkret war das im Oktober 1990, damals traten wir als Berater der ja noch bestehenden IG Metall Ost auf. Ab 1. Januar 1991 wurden dann die offiziellen Strukturen der gesamtdeutschen IG Metall aufgebaut. Wir haben also viel Beratungsarbeit geleistet, sehr groß war die Nachfrage nach Rechtsberatung. Das westdeutsche Rechtssystem war ja nahezu unbekannt.

 

Michael Ebenau

Aber wir haben auch Widerstand gegen die Abwicklung von Betrieben organisiert, den Kampf um Arbeitsplätze und um den Erhalt der industriellen Strukturen geführt. Anfang 1991 demonstrierten in Jena über 20.000 Menschen für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Jenoptik Carl Zeiss Jena, damals noch ein Unternehmen mit etwa 27.000 Arbeitsplätzen, davon knapp 20.000 direkt in Jena. Vorgefunden haben wir eine Mischung aus Optimismus und Gestaltungswillen, aus Enttäuschung über die ausbleibenden „blühenden Landschaften“ und die bitteren sozialen Folgen der Vereinigung.

 

Was hat Dich persönlich am meisten bewegt?

Da erinnere ich mich an zwei sehr unterschiedliche Erlebnisse: Zum einen war der Tag, an dem Jenoptik Carl Zeiss Jena auf einen Schlag 17.000 Kündigungen verschickte. Zwar war es uns gelungen, das Unternehmen zum Erhalt von 10.200 von 27.000 Arbeitsplätzen zu zwingen, das war aber eben auch mit 17.000 Kündigungen verbunden. An diesem Tag erhielten 17.000 Menschen in Jena, Gera und Saalfeld die Mitteilung: Dein Arbeitsplatz ist weg. Es ist klar, welche Verbitterung und welche Tränen das erzeugte.

Das zweite Erlebnis ist ebenfalls eng mit Jenoptik Carl Zeiss Jena verbunden: Der Konzernvorstand gab bekannt, alle Ausbildungsverträge zu kündigen und in eine überbetriebliche Ausbildungsgesellschaft transferieren zu wollen. Das haben die Auszubildenden und die Ausbilder mit einer eintägigen Blockade der Zugänge zur Konzernverwaltung verhindert, abends bekamen wir vertraglich zugesichert, dass diese Maßnahmen zurückgenommen werden. Ein Erfolg des gemeinsamen Widerstandes von 2.000 aktiven Kolleginnen und Kollegen.

 

Wann trat eine Stabilisierung der Lage ein?

Die Frage ist ehrlicherweise: Gibt es überhaupt eine stabile Lage? Die Industriestruktur im Osten ist noch immer ausgesprochen fragil: Es gibt eine ganze Reihe von Konzernstandorten, die zu hundert Prozent von den Entscheidungen und Investitionsplanungen der Mutterunternehmen abhängig sind. Daneben gibt es eine Vielzahl kleiner, inhabergeführter Unternehmen, die nicht über die Finanzreserven verfügen, um unabhängig von Dritten ihre Zukunft zu planen. Es gibt kaum größere, unabhängig agierende Ost-Unternehmen. Von daher müssen wir aufpassen, damit nicht der Osten von den aktuellen Umbruchprozessen der Industrie besonders hart getroffen wird.

 

Warum kam die Annäherung an den Westen nicht weiter voran?

Das liegt an der konkreten Ausgestaltung der Wiedervereinigung: Es war eben keine gleichberechtigte Vereinigung, sondern die Eingliederung eines implodierten Staates in einen anderen Staat, der die Bedingungen dafür diktierte. Dem ist auch die vorhandene Industrie zum größten Teil geopfert worden. Die ökonomischen, sozialen und auch psychologischen Folgen sind bis heute spürbar.

 

Wie haben die Menschen die vielen Brüche persönlich verarbeitet?

Das ist eine schwierige Frage, da reicht der Platz für eine wirkliche Antwort nicht aus. Wir haben Hoffnung, Verbitterung, Gestaltungswillen und schlichten Rückzug aus der Gesellschaft erlebt, oft alles gleichzeitig in einer Belegschaft oder auch in einem Betriebsrat. In der IG Metall wächst heute aber im Osten eine Generation nach, die diese Brüche persönlich selbst nicht mehr erlebt hat und mit viel mehr Selbstbewusstsein gleichen Lohn für gleiche Arbeit fordert und nicht mehr einsieht, 38 oder 40 Stunden pro Woche arbeiten zu müssen, während in den westdeutschen Schwesterbetrieben seit Jahrzehnten die 35-Stunden-Woche gilt.

 

Siehst Du heute neue Chancen für die Gewerkschaftsarbeit?

Wir haben viele Chancen: Gemeinsam mit der neuen Generation, die ich eben versucht habe zu beschreiben, können wir uns für die Interessen der abhängig Beschäftigten stark machen, können die Zukunft im Osten gestalten. Die IG Metall gewinnt in den neuen Bundesländern vielerorts an Stärke, sie ist in vielen Fragen ein ernst genommener Faktor. Wenn es uns gelingt, dies auszubauen, sehe ich viele Möglichkeiten, die Zukunft zu gestalten.

 

Die Jungen im Osten: Gehen oder bleiben? – Ein Blick der heutigen Generation


Mehr zum Thema:

Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls hat die IG Metall Zeitzeugeninterviews und Berichte zusammengestellt. Entstanden ist dabei die Broschüre „30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Kampf um Arbeitsplätze, industrielle Perspektiven und Tarifbindung“. Sie ist abrufbar unter: projekt-zukunft-ost.de


Neu auf igmetall.de

Link zum Artikel