22. November 2017
Tarifflucht im Handwerk
IG Metall dringt auf gesetzliche Reformen
Dem Handwerk geht der Nachwuchs aus. Hauptgrund: Immer mehr Betriebe zahlen nicht nach Tarif. IG Metall-Vorstandsmitglied Ralf Kutzner sieht die Innungen in der Pflicht, Flächentarifverträge abzuschließen. Ein Rechtsgutachten unterstützt seine Auffassung.

„Feuer und Flamme fürs Handwerk“ sind Jugendliche zurzeit vor allem in der millionenschweren Imagekampagne des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH). Die Realität zeichnet ein anderes Bild. Fast 19 000 Ausbildungsplätze blieben diesen Herbst unbesetzt. Und zwei von drei jungen Leuten, die eine Ausbildung im Handwerk machen, wandern danach ab: 35 Prozent in die Industrie, acht Prozent in den Handel, die anderen wechseln an Hochschulen oder bilden sich anderweitig weiter. Vor allem Elektro-, Sanitär- und Heizungsbaubetriebe tun sich schwer, Nachwuchs zu finden und zu halten.


Tarifverweigerer

Aus Sicht von Ralf Kutzner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, haben die Handwerksbetriebe und ihre Verbände sich die Misere selbst eingebrockt. Weil sie keine tariflichen Standards bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen mehr bieten. In den vergangenen Jahren hat eine regionale Innung nach der anderen erklärt, sich für Tarifverträge nicht mehr für zuständig zu fühlen. Statt selbst Tarifverträge für ihre Mitgliedsverbände zu führen, haben zum Beispiel die Innungen im Kraftfahrzeughandwerk „Tarifgemeinschaften“ gegründet, die Verträge aushandeln können. Tarifgebunden sind dann nur noch Innungsbetriebe, die zusätzlich der Tarifgemeinschaft beitreten. Im Kfz-Handwerk in Hessen zum Beispiel sind von 2600 Betrieben der Innung nur 130 in der Tarifgemeinschaft.


30 Prozent weniger Lohn

Inzwischen gibt es im Kfz-Handwerk nur noch in zwei Bundesländern Flächentarifverträge, also Verträge, die landesweit für alle Betriebe gelten. Im Elektrohandwerk sind es vier, im Heizungsbau sechs Länder. In den 1990er-Jahren war das noch anders. Damals gab es fast in allen Handwerken bundesweit Flächentarifverträge. Die Flucht der Firmen aus der Tarifbindung hat für die Beschäftigten spürbare Nachteile. Noch vor 20 Jahren waren die Einkommen im Handwerk nicht viel niedriger als in der Industrie. Heute liegen sie rund 30 Prozent darunter. Die Ausbildungsvergütungen sind nach Angaben des Bundesinstituts für Berufsbildung etwa 35 Prozent niedriger.


Fehlende Fachkräfte

Die tarifflüchtigen Betriebe erhoffen sich, mit niedrigeren Löhnen und schlechten Arbeitsbedingungen Vorteile im Wettbewerb zu erzielen. „Tatsächlich“, so Kutzner, „schaden sie aber nur sich selbst. Viele Betriebe leiden unter Personalmangel. Vor allem Fachkräfte fehlen.“ Nach Umfragen sehen 36 Prozent der Handwerksbetriebe im Fachkräftemangel schon ein Investitionshemmnis.


Häuserkämpfe

Die IG Metall sieht der Tarifflucht nicht tatenlos zu. Wo die Innungen sich verweigern, zwingen sie die IG Metall und ihre Mitglieder, in den Betrieben einen „Häuserkampf“ zu führen. Mehr als 1000 Haustarifverträge hat sie bereits mit einzelnen Firmen geschlossen. Die dort Beschäftigten können sich darüber freuen. Haustarifverträge schaffen aber zwei Klassen von Arbeitnehmern, so lange es noch Betriebe gibt, für die kein Haustarif erstritten werden konnte. Darum fordert Ralf Kutzner die Innungen und Innungsverbände auf, wieder mit der IG Metall über Flächentarifverträge zu verhandeln. Unterstützt wird er durch ein Gutachten des Rechtswissenschaftlers Winfried Kluth von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, das Kluth und Kutzner gestern in Frankfurt am Main vorgestellt haben. Das Gutachten hatte das Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht in Auftrag gegeben.


Tarifbindung stärken

Kluth erläutert, dass die Innungen und die Innungsverbände nach geltendem Recht Tarifverträge abschließen sollen. Sie sind öffentlich-rechtliche Institutionen. Tarifverhandlungen für die Mitglieder der Innungen führen zu können, ist ein Privileg, das der Gesetzgeber ihnen verliehen hat. Da sie es aber kaum mehr wahrnehmen, fordert die IG Metall von der künftigen Regierungskoalition, die Handwerksordnung zu ändern, um die Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaft und Arbeitgebern und die Tarifbindung im Handwerk wieder herzustellen. „Innungen, die ihre tarifpolitischen Aufgaben nicht wahrnehmen, sollten ihren Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts verlieren“, fordert Kutzner. Die Konsequenz wäre, dass sie nicht mehr für Gesellenprüfungen zuständig wären.


Mehr Transparenz

Außerdem fordert Kutzner: Wenn in Innungen über den Abschluss von Tarifverträgen abgestimmt wird, soll die Zahl der Stimmen, die jeder Betrieb hat, künftig von der Zahl der Beschäftigten abhängen. So können nicht mehr Kleinbetriebe mit wenig Personal die Willensbildung dominieren. Ferner soll die Entscheidung über die Kündigung eines Flächentarifs demokratisiert und transparenter werden: „Es muss sichergestellt werden, dass nicht allein die Obermeister der Innungen darüber befinden, sondern alle Mitglieder – auf Innungsversammlungen.“


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