11. November 2011
Interview mit Hans-Jürgen Urban
Gutes Leben setzt gute Arbeit voraus
Leiharbeit, befristete Beschäftigung oder staatlich subventionierte Niedriglöhne – auf dieser Basis lässt sich kein gutes Leben begründen, weiß Hans-Jürgen Urban. Warum prekäre Arbeit unsichere und somit schlechte Arbeit ist, erzählt das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall im Interview

Hans-Jürgen, als die IG Metall im letzten Jahr über 450 000 Beschäftigte zu ihren Vorstellungen von einem guten Leben befragt hat, gaben 77 Prozent an, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für sie sehr wichtig sei. Sind Arbeit und Privatleben in der modernen Arbeitswelt ohne weiteres unter einen Hut zu bringen?

Wir beobachten eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit, die sich oftmals nicht nur in überlangen Arbeitszeiten ausdrückt, sondern auch darin, dass viele Beschäftigte ihre unerledigte Arbeit mit nach Hause nehmen. Der von den Unternehmen weiter gegebene Druck des Marktes bzw. der Kunden beschleunigt diese Entgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben. Hinzu kommt, dass tarifliche Arbeitszeitstandards zunehmend angegriffen werden.
All dies hat zur Folge, dass die Balance zwischen Arbeit und Privatleben für viele gestört ist. Wir haben mit dem DGB-Index Gute Arbeit ermittelt, dass mittlerweile 42 Prozent der Beschäftigten klagen, dass sie keine ausgewogene Balance haben. Dies hängt eng mit der jeweiligen Qualität der Arbeit und dem Einfluss der Beschäftigten auf ihre Arbeitszeitgestaltung zusammen. Denn bei denen, die hier von guten Arbeitsbedingungen sprechen können, wird zu fast 80 Prozent eine gute Balance zwischen Arbeit und Privatleben bestätigt. Gutes Leben setzt eben auch gute Arbeit voraus!
 

Eine Studie der Bundespsychotherapeutenkammer hat ergeben, dass die psychischen Belastungen und Erkrankungen von Arbeitnehmern rasant ansteigen. Unsicherheit und Leistungsdruck nehmen zu. Wie kann verhindert werden, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch berufliche Belastungen krank werden?

Die Zunahme psychischer Belastungen in der Arbeitswelt ist unter anderem eine Folge des enorm gestiegenen Leistungsdrucks, der oft maßlosen Anforderungen, die bis an die Grenze der Belastbarkeit der Menschen gehen. Wir stellen deshalb Prävention und gute Arbeitsgestaltung in den Mittelpunkt. Psychische Belastungen müssen bei den Gefährdungsbeurteilungen ermittelt und bewertet werden, um Präventionsmaßnahmen abzuleiten. Es gibt noch viel zu wenige Gefährdungsbeurteilungen in den Betrieben, die diesen Ansprüchen genügen. Dies wollen wir durch Unterstützung der Betriebsräte ändern.

 

Was bietet die IG Metall selbst konkret an?

Wir haben im Rahmen des Projekts Gute Arbeit ein eigenes „Werkzeug“ für Betriebsräte und Betroffene zum Selbstcheck oder für ein aktionsorientiertes Vorgehen gegen psychische Belastungen entwickelt – das „Stress-Barometer“. In unserem neuen Vorhaben – „Gute Arbeit im Büro“ – werden die psychischen Belastungen eine ganz wichtige Rolle spielen.

 

Die Gruppe der Erwerbstätigen teilt sich zunehmend in zwei Lager: Prekäre Beschäftigungen wie Leiharbeit und Befristung nehmen zu, während zeitlich unbegrenzte Festanstellungen Seltenheitswert erlangen. Was bedeutet das für die Lebensqualität der Menschen?

Prekäre Arbeit – sei es in Form von Leiharbeit oder als befristete Beschäftigung – ist unsichere und schlechte Arbeit. Das beeinträchtigt massiv die Lebensqualität. Gerade der jüngeren Generation, der zu einem hohen Anteil nur noch solche Jobs angeboten werden, wird damit jede Sicherheit der beruflichen und auch familiären Planung entzogen. Hinzu kommt: Die zunehmende Prekarisierung von Arbeit verbreitet die Unsicherheit in alle Bereiche – auch in den noch fest angestellten Stammbelegschaften. Damit entsteht ein Druck auf die Qualität der Arbeitsbedingungen insgesamt. Schon jetzt ist sichtbar, dass im Ausgang der Krise Leiharbeit systematisch ausgeweitet werden soll. Diese zunehmende Prekarisierung zu stoppen, ist ein Ziel unserer Kampagne „Gemeinsam für ein gutes Leben“.

Im Zuge der von Außenminister Guido Westerwelle provozierten Hartz IV-Debatte wurde über die steigende Zahl derer berichtet, die trotz Vollzeitarbeit von ihrem Lohn nicht leben können. Sie sind zusätzlich auf staatliche Unterstützung angewiesen. Lässt sich auf Basis eines staatlich aufgestockten Niedriglohns ein gutes Leben begründen?
Der Niedriglohnsektor hat sich verfestigt und weitet sich immer mehr aus. Im Jahr 2009 hieß das für 7,1 Millionen Menschen, dass sie eine geringfügig entlohnte Beschäftigung haben. Rund 1,3 Millionen Beschäftigte sind heute „Aufstocker“, das heisst, sie können von ihrem Job nicht leben und sind zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Auf dieser Basis lässt sich kein gutes Leben begründen. Diese Entwicklung ist kein Unfall, sondern Resultat einer bewussten politischen Entscheidung, die den schleichenden Umbau der Beschäftigungsverhältnisse – etwa durch die Hartz-Gesetze – systematisch vorangetrieben hat. Damit muss Schluss sein: Die dramatische Ausdehnung des Niedriglohnsektors muss endlich gestoppt werden.
 

Union und FDP wollen die Finanzierung des Gesundheitswesens grundlegend umbauen und eine einkommensunabhängige Kopfpauschale einführen. Auf keinen Fall sollen die Arbeitgeber durch steigende Kosten belastet werden. Ist das der richtige Weg?

Nein! Sollte der Arbeitgeberbeitrag – wie geplant – eingefroren werden, dann werden die wachsenden Kosten im Gesundheitssystem einseitig den Versicherten aufgebürdet. Sie werden in Zukunft mehr für ihre Gesundheit zahlen müssen. Durch die beabsichtigte Einführung eines einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeitrags zahlen die Versicherten nicht mehr entsprechend ihrer finanziellen Leistungskraft. Egal ob niedrige oder hohe Einkommen – alle zahlen die gleiche „Kopfpauschale“. Unsozialer geht es nicht! Ein solcher Frontalangriff auf die soziale Krankenversicherung ist der falsche Weg! Notwendig sind echte Reformen. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Solidarität. Mit der Bürgerversicherung hat die IG Metall ein Konzept entwickelt, dass unter der Überschrift „Alle rein ins Solidarsystem“ den notwendigen Solidarausgleich organisiert und eine gerechte Lastenverteilung sicherstellt.
 

Über 80 Prozent der von der IG Metall befragten wollen, dass die Rente mit 67 zurückgenommen wird. In diesem Jahr steht die Überprüfung der Rente mit 67 an. Was macht die IG Metall?

Die Kolleginnen und Kollegen haben mit ihrer Ablehnung der Rente mit 67 vollkommen Recht – sie ist beschäftigungspolitisch unsinnig und sozial ungerecht. Bereits heute schaffen es viele Beschäftigte nicht bis zum Renteneintrittsalter zu arbeiten. Und wer nicht mehr kann, wird mit Arbeitslosigkeit und Rentenabschlägen bestraft. Zugleich verschlechtern sich die Beschäftigungschancen für die Jungen, wenn Ältere gezwungen werden länger zu arbeiten. Unter den Bedingungen der Krise gewinnt die Rente mit 67 nicht an Plausibilität, sondern an Absurdität. Notwendig ist jetzt das gerade Gegenteil! Wir brauchen Maßnahmen, die rentennahen Jahrgängen den Ausstieg erleichtern und jungen Menschen neue Beschäftigungsperspektiven eröffnen.
 

Was tut die IG Metall, um solche Maßnahmen herbeizuführen?

Wir wissen: Das alles wird sich nicht sofort durchsetzen lassen – durch die Schwarz-Gelbe Regierungsmehrheit haben sich die Bedingungen für eine solidarische Alterssicherungspolitik nicht gerade verbessert. Aber wir sollten die im Herbst anstehende rechtliche Überprüfung der Rente mit 67 und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit nutzen, um den politischen und gesellschaftlichen Druck gegen die Erhöhung der Altersgrenzen auszubauen. Wir wollen einen neunen Anlauf nehmen, das erwarten auch unsere Mitglieder von uns. Deshalb ist der Widerstand gegen die Rente mit 67 und unsere Forderung nach flexiblen Altersübergängen einer der Schwerpunkte in diesem Jahr. So wird die IG Metall etwa eine eigene Anhörung mit allen im Bundestag vertreten Parteien durchführen und klar machen, dass die Voraussetzungen für Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht vorliegen. Wir werden auch alle Bundestagsabgeordnete mit der Situation in den Betrieben und am Arbeitsmarkt konfrontieren und sie auffordern Stellung zu beziehen. Hinzu kommen eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Aktionen, die in die Kampagne „Gemeinsam für ein gutes Leben“ eingebettet sind. So werden etwa Jugendliche und Seniorinnen und Senioren gemeinsam öffentliche Aktion gegen die Rente mit 67 starten und für eine Beschäftigungsbrücke werben. Nach der Sommerpause werden wir prüfen müssen, ob nicht weitergehende Aktionen nötig und möglich sind – vielleicht sogar während der Arbeitszeit!


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