28. Februar 2017
Mobilarbeit im Sinne der Beschäftigten
Wie flexible Arbeit gestaltet werden kann
Wird die Arbeit mobil, werfen Beschäftigte den Rechner auch mal unterwegs im Zug an oder zuhause am Küchentisch. Die Technik macht’s möglich. Audi, Daimler und Siemens zeigen, wie mobile Arbeit selbstbestimmt und verantwortungsvoll geregelt werden kann.

Für Norbert Rank war es eine Frage des Anstands, nicht der Technik. „Es gehört sich nicht, einem Kollegen abends eine E-Mail zu schicken oder sonntags anzurufen“, sagte der damalige Betriebsratsvorsitzende von Audi in Neckarsulm. Es ist ein Tabu. Deshalb heißen diese Zeiten in der Vereinbarung zur mobilen Arbeit bei Audi auch Tabuzeiten – Zeiten, in denen nicht gearbeitet und nicht gemailt wird. Seit Oktober 2016 gilt die mobile Arbeit für die beiden deutschen Audi-Standorte in Ingolstadt und Neckarsulm.

Für Norbert Rank war es die letzte Vereinbarung, die er mitverhandelt hat. Seit Oktober 2016 ist Norbert Rank im Ruhestand – nach 47 Jahren bei Audi und 16 Jahren als Betriebsratsvorsitzender.


Mehr selbst bestimmen

Der Wunsch, mobile Arbeit zu regeln, kam von den Beschäftigten. Als der Betriebsrat sie nach ihren Arbeitszeitwünschen fragte, stand er ganz oben auf der Liste. Viele erledigten Arbeit längst von unterwegs, weil es sich so ergab und weil Arbeit heute oft nicht mehr an einen Ort gebunden ist. Der Betriebsrat wollte genauer wissen, wie sich die Beschäftigten mobile Arbeit vorstellen, und lud zur Diskussion ein. Wieder wussten sie genau, was sie wollten: feste Zeiten, in denen nicht gearbeitet werden darf, mehr Zeit, über die sie selbst bestimmen können, und mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Wünsche waren die Vorlage für die Betriebsvereinbarung. Sie regelt unter anderem, dass Zeiten zwischen 22 und 6 Uhr tabu sind, hier darf in der Regel nicht gearbeitet werden. Das Gleiche gilt an Sonn- und Feiertagen. Ausnahmen werden bei Schichtarbeit oder Rufbereitschaften gemacht. Jeder kann mobil arbeiten, wenn die Arbeit es zulässt, aber niemand muss. Die Zeiten, die Audi-Beschäftigte in Zukunft unterwegs oder zu Hause arbeiten, erfassen sie selbst.


Beschäftigte beteiligt

Mobile Arbeit bedeutet für beide Seiten – Führungskräfte und Beschäftigte – Verantwortung. Wer zu Hause oder unterwegs arbeitet, muss selbst darauf achten, dass er gesetzliche und tarifliche Arbeitszeitregeln einhält, Pausen macht und rechtzeitig den Rechner zuklappt. Aber auch Vorgesetzte können sich ihrer Verantwortung nicht entziehen, nur weil Beschäftigte nicht im Büro, sondern zu Hause bis spät abends vor dem Rechner sitzen. „Wir müssen lernen, mit dieser Freiheit umzugehen, sonst wird sie eine Fessel“, war Rank überzeugt.

Das sieht Michael Brecht ganz genauso: „Wir wollen es den Beschäftigten ermöglichen, flexibler über ihre Arbeitszeit und den Arbeitsort zu bestimmen“, sagt der Betriebsratsvorsitzende von Daimler. „Neben dem Recht auf Mobilarbeit ist auch ein Recht auf Nichterreichbarkeit wichtig.“ Mit der neuen Gesamtbetriebsvereinbarung zum mobilen Arbeiten ist es gelungen, beiden Wünschen Rechnung zu tragen – und das zur vollsten Zufriedenheit der Beschäftigten.


90 Prozent finden mobiles Arbeiten gut

Möglich wurde das, weil die Beschäftigten systematisch eingebunden wurden. Die Beteiligungskampagne wurde von Gesamtbetriebsrat, IG Metall und Unternehmen gemeinsam getragen und vom Fraunhofer IAO wissenschaftlich begleitet. In einer Onlinebefragung sowie in vertiefenden Workshops an allen Standorten konnten die Beschäftigten ihren Regelungsbedarf zum mobilen Arbeiten eigenständig formulieren – die Resonanz war überwältigend: 33 400 Daimler-Beschäftigte nahmen an der Befragung teil, das sind 41 Prozent der 82 500 Befragten. Auch an den bundesweiten Workshops beteiligten sich die Beschäftigten engagiert. „Es hat sich gezeigt, dass für mehr als 90 Prozent der Beschäftigten mobiles Arbeiten eine positive Bedeutung hat“, sagt Jörg Spies, Betriebsratsvorsitzender der Daimler-Zentrale Stuttgart und Verhandlungsführer der Vereinbarung. „Die Ergebnisse waren Grundlage für unsere Verhandlungen.“

Mit der Vereinbarung bekommen alle Beschäftigten die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, sofern dies mit ihrer jeweiligen Tätigkeit vereinbar ist. Eine Begründung ist nicht mehr erforderlich. Dazu werden auch Grundsätze der Erreichbarkeit geregelt: Außerhalb der vereinbarten mobilen Arbeitszeit müssen die Beschäftigten nicht erreichbar sein. Beschäftigte und Teams können mit ihrer Führungskraft Zeiten der Erreichbarkeit und damit auch der Nichterreichbarkeit vereinbaren. Erstmals wird Arbeit außerhalb der betrieblichen Gleitzeit erfasst und bezahlt. Stundenweise kann nun auch samstags gearbeitet werden. Natürlich sind dabei gesetzliche, tarifliche und betriebliche Arbeitszeitregelungen einzuhalten.


Anwesenheit wird nicht mehr mit Leistung gleichgesetzt

Die Vorteile der mobilen Arbeit schätzen die Beschäftigten bei Siemens in München-Perlach. Seit gut sechs Jahren haben sie das Recht, 20 Prozent ihrer Arbeit außerhalb des Büros zu erledigen. Nach diesen sechs Jahren, stellt Betriebsrätin Gabriele Dube fest, gibt es nicht nur mehr Arbeitsorte: Mobile Arbeit hat auch die Kultur im Büro verändert. Anwesenheit wird nicht mehr mit Leistung gleichgesetzt. „Wenn es normal ist, dass Kolleginnen und Kollegen nicht da sind und trotzdem arbeiten, nimmt das Gefühl ab, präsent sein zu müssen“, sagt Dube. Viele schätzen es, sich an ihrem mobilen Arbeitstag die Zeit selbst einteilen zu können und nicht ständig unter Beobachtung zu stehen.

Doch nicht jeder will mobil arbeiten. Bei Siemens bedeutet mobile Arbeit auch Umzug ins Großraumbüro und Schreibtischsuche statt festem Arbeitsplatz. Arbeitgeber versprechen sich von mobiler Arbeit, Kosten zu sparen. Die Rechnung: Wenn ein Teil mobil arbeitet, muss im Büro nicht für jeden ein Schreibtisch stehen. Das spart Fläche und Miete. „Doch nicht jeder will ins Großraumbüro ziehen“, sagt Dube. Manche klagen über die Lautstärke, vermissen eine persönliche Umgebung oder wollen nicht jeden Tag ihren Schreibtisch komplett leerräumen. Wer keinen Platz zu Hause hat, ist auf einen Platz im Büro angewiesen. Mobile Arbeit bedeute auch, dass die Beschäftigten mehr selbst organisieren müssen. An Tagen, an denen viele aus einem Team da sind, jagt oft eine Sitzung die nächste.

Auch für den Betriebsrat hat sich manches verändert. „Wir führen ganz andere Gespräche mit Führungskräften“, sagt Dube. So mancher denke, was er nicht sehe, gehe ihn nichts an. Ihnen muss der Betriebsrat klarmachen, dass es immer noch ihre Aufgabe ist, auf die Einhaltung der Arbeitszeiten und die Vorgaben des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu achten, auch wenn Beschäftigte nicht bei Siemens am Schreibtisch sitzen. 


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