24. Juni 2014
Arbeitsbelastungen in der Textilindustrie
Gesund in Rente gehen
Klagen über ständige Schmerzen in Schultern, Nacken und Rücken sowie hohe Krankenstände. Das prägte lange Zeit den Arbeitsalltag der Textiler der Spinnerei in Neuhof im oberfränkischen Hof. Der Betriebsrat ließ die Arbeitsplatzsituation erfassen und leitete Maßnahmen zum Gesundheitsschutz ein.

Am Abend, nach acht Stunden Greifen und Heben und Drehen und Bücken, am Abend, da schmerzen die Arme. Und der Rücken, sagt Anja Schiffler-Werner, der Rücken tut auch weh. Die 42-Jährige greift in der Spinnerei Neuhof im oberfränkischen Hof Garnspulen, legt auf eine Ablage verpackt sie in Kartons. 3000 Stück am Tag, jede wiegt eineinhalb Kilo.

Wie könnte es anders sein, als dass Anja Schiffler-Werner abends keine Schmerzen hat? „Natürlich kann es auch anders sein“, sagt Randolph Oechslein. Er ist Betriebsrat in der Spinnerei und überzeugt, dass Dinge besser werden können. Besonders die Arbeitsbelastungen. Das hat er bewiesen.


Rückenprobleme vorprogrammiert

190 Menschen arbeiten in der Spinnerei Neuhof. In den großen Werkshallen aus Klinkerstein spinnen sie Garne für Schutzbekleidungen und Heimtextilien. Es ist eine hoch technische, präzise Arbeit, die sie hier leisten. Körperlich ist sie extrem anstrengend. „Die Kolleginnen und Kollegen sind hohen Belastungen ausgesetzt“, sagt Betriebsrat Oechslein. Viele Maschinen sind ergonomisch mangelhaft konstruiert: Wer an ihnen arbeitet, muss sich oft bücken und drehen. Rückenprobleme sind so vorprogrammiert.

Oechslein und seine Betriebsratskollegen wollten sich damit nicht abfinden. Sie machten Druck auf die Geschäftsleitung und ließen Belastungsanalysen für einzelne Arbeitsplätze durchführen. Auf dieser Grundlage konnten sie vieles verbessern. In der Ringspinnerei wurden Leichtlaufräder an die Spulenwagen montiert, die meisten der 450 Wagen sind bereits umgerüstet, jetzt lassen sie sich auch voll beladen
gut schieben.

An den Zwirnmaschinen wurden die Bremsen justiert, und im Spinnereivorwerk hat der Betriebsrat eine große Investition durchgesetzt: Maschinen greifen nun die einzelnen Lagen Rohfaser, jede wiegt rund zehn Kilo, und legen sie auf ein Band. „Seither steigen Rückenkrankheiten nicht mehr“, sagt Oechslein, „aber es gibt trotzdem noch viel zu tun.“ Etwa in der Einlegerei, in der auch Anja Schiffler-Werner arbeitet. „Ein zweites Förderband wird gebaut, die Kollegen müssen sich dann nicht so oft bücken“, sagt Oechslein.


Vom Eingliederungs- zum Gesundheitsmanagement

Bereits schon vor Jahren startete der Betriebsrat und die IG Metall in der Spinnerei das Projekt „Demografit“. Das Projekt führte das Berufsforschungs- und Beratungsinstituts für interdisziplinäre Technikgestaltung (BIT) Bochum durch, das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gefördert wurde. Ziel war es, herauszufinden, wie sich die hohen Arbeitsbelastungen vermindern lassen, die besonders älteren Beschäftigten zu schaffen machen und einen hohen Krankenstand verursachten.

Der Betriebsrat lud zu Abteilungsversammlungen ein – jede Schicht extra, jeder Saal einzeln und grundsätzlich ohne Vorgesetzte. Was die Beschäftigten dort erzählten, überraschte selbst Oechslein. Manche kamen nur mit Schmerzmitteln über den Tag, andere klagten über ständige Schmerzen in Schultern, Nacken und Rücken. Die Mitarbeiter des BIT analysierten die Arbeitsplätze. In Gesprächen erzählten die Beschäftigten, was ihnen zu schaffen macht und was sich ändern muss.

​​​​​​​Um den Krankenstand weiter zu reduzieren, will der Betriebsrat das „Betriebliche Eingliederungsmanagement“ vorantreiben. Wenn jemand im Laufe eines Jahres länger als sechs Wochen wiederholt oder ununterbrochen krank ist, muss der Arbeitgeber den Arbeitsplatz verändern oder den Betroffenen versetzen. In jedem Fall muss er alles tun, um seine Arbeitsfähigkeit wieder herzustellen, damit er nicht wieder krank wird und der Arbeitsplatz erhalten bleibt. So regelt es das Gesetz. Dieses Eingliederungsmanagement will der Betriebsrat erweitern zum Gesundheitsmanagement. „Wir müssen die Arbeitsbedingungen dringend verändern. 58 Prozent der Belegschaft ist 45 Jahre und älter. Bis 67 hält das hier sonst keiner durch“, sagt er.


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