Gewerkschaftliche Perspektiven in der Wirtschaftskrise
Demokratie wagen!

Martin Allespach, Alex Demirovic’und Lothar Wentzel erklären in ihrem Beitrag, warum soziale Ungleichheit und die Polarisierung in Deutschland zunehmen und was das für die Demokratie bedeutet.

21. Januar 201021. 1. 2010


Die ökonomische Entwicklung und die politischen Entscheidungen haben in den vergangenen Jahren die soziale Ungleichheit und Polarisierung der bundesdeutschen Gesellschaft verstärkt; die Gerechtigkeitslücke wird immer größer. Diese empirisch vielfach belegte Verschlechterung der Lebenslage eines erheblichen Teils der Beschäftigten und der Bevölkerung berührt unverkennbar auch ihre Sicht auf die Gesellschaft. In der Wahrnehmung und Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung gibt es zwischen dem Großteil der Bevölkerung auf der einen Seite und den Eliten in Wirtschaft, Politik oder Medien auf der anderen eine deutliche Diskrepanz. Fast scheint es, als lebten sie in verschiedenen Gesellschaften, als narkotisiere sich die Öffentlichkeit selbst, um die immer wieder festgestellten statistischen Beobachtungen und die Stimmung in der Bevölkerung nicht ernst nehmen zu müssen.

Die Talkshow-Demokrate und ihre Folgen
Allerdings wird in den Medien auch ein Konflikt darüber ausgetragen, ob soziale Gerechtigkeit ein orientierender Maßstab sein sollte. Charakterisieren die einen soziale Gerechtigkeit als Ärgernis, betonen andere, dass in der Talkshow-Demokratie diejenigen schnell die Macht verlieren, die nicht erkennen, dass Gerechtigkeit der große Wert und das große Wort der nächsten Jahre sei. Nach den Landtagswahlen im August 2009 war in CDU und FDP eine Korrektur festzustellen, denn führende Vertreter dieser Parteien betonen seitdem, dass sie sich dem Thema der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlen.

Was als ungerecht empfunden wird
Tatsächlich ist in der Bevölkerung das Ungerechtigkeitsempfinden weit verbreitet. Die Deutschen, so halten Befragungen seit Jahren fest, beurteilen die Gesellschaft und ihre Entwicklung als zunehmend ungerecht. Es fehle, so das Ergebnis einer Befragung der Bertelsmann-Stiftung von 2007, die Verwirklichung von Verteilungsgerechtigkeit. Genannt werden Kinderarmut, zu hohe steuerliche Belastung von Geringverdienern, fehlende Mindesteinkommen und Steuerschlupflöcher. Die Ergebnisse einer von Emnid durchgeführten
Befragung bestätigen das. Ihr zufolge empfinden in Deutschland 82 Prozent das Steuersystem, 81 Prozent die Einkommensverteilung, 73 Prozent sowohl das Rentensystem als auch das Gesundheitssystem und 65 Prozent die Behandlung von Familien als ungerecht. Selbst nach dem Kriterium der Chancengleichheit, demzufolge die Individuen auch ein hohes Maß an Ungleichheit noch als gerecht ansehen, wenn sie nur gleiche Ausgangschancen erwarten können, gilt die bundesdeutsche Gesellschaft nicht als gerecht. Denn auf die Frage, ob die Menschen hierzulande Chancengleichheit haben, antworten nur 26 Prozent mit Ja, aber 69 Prozent mit Nein.

Wer ist eigentlich mehr wert?
Nach Maßstäben der Leistungsgerechtigkeit, eines weiteren Gerechtigkeitskonzepts, werden unter anderem die Einkommen als Ergebnis geleisteter Arbeit moralisch bewertet. In den vergangenen Jahren wurden Gehälter, Boni oder Abfindungen von Managern sowie die Vermögenseinkommen öffentlich vielfach skandalisiert. Kann es als gerechtfertigt gelten, dass sich eine winzige Gruppe von Menschen einen großen Teil der gesellschaftlichen Ressourcen
aneignet? Ist es denkbar, dass Individuen derart viel leisten, dass sie einen entsprechend hohen gesellschaftlichen Gegenwert erhalten? Ist ihre Leistung so deutlich viel mehr wert als die vieler anderer?

Neid spielt keine Rolle
Die Gerechtigkeitsforschung zeigt, dass – anders als oftmals in der Politik behauptet – Neid keine große Rolle in der Beurteilung von gerechten Leistungen spielt. Leistungsbezogene Ungleichheiten gelten über nationalstaatliche Grenzen hinweg bei großen Mehrheiten als gerecht. Es geht um die Frage, ab welcher Spanne die Einkommensungleichheit als unfair betrachtet wird. Dies kann bei einem Verhältnis von 3:1 beginnen und reicht bis zu einem
Verhältnis von 12:1.6 Dem International Social Justice Project der Humboldt- Universität zufolge halten Befragte in Deutschland immerhin noch einen Abstand zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Einkommen von 34:1 für gerecht.7 Trotz dieser doch schon sehr großen Spanne weichen die für fair gehaltenen Leistungsungleichheiten deutlich von der kapitalistischen Realität ab. So bezogen die Manager der DAX-Unternehmen 2006 ein Einkommen von durchschnittlich 3,4 Mio. Euro. David Miller äußert die Ansicht, dass viele Menschen wahrscheinlich auch hohe Einkommen nicht beanstanden würden, sondern eher, dass die Großverdiener ihre hohe Bezahlung nicht wirklich verdienten und die unteren Einkommensgruppen zu wenig erhielten.

Was macht überhaupt die Politik?
Angesichts des verbreiteten Gefühls der Ungerechtigkeit erstaunt es nicht, wenn sich viele Menschen von der Politik nicht ernst genommen und nicht einbezogen fühlen. Mit dem Funktionieren der Demokratie ist etwa die Hälfte der Bevölkerung unzufrieden. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge sehen insbesondere Arbeitslose (73 Prozent) und Befragte aus Hartz-IV-Haushalten (63 Prozent) die demokratische Praxis kritisch.9 Ein Drittel der Befragten glaubt nicht, dass die Demokratie die Probleme lösen könne, die wir in Deutschland haben.10 Dementsprechend ist das Vertrauen in Politiker in der Bundesrepublik niedriger als in vielen anderen OECD-Staaten und liegt deutlich unter zehn Prozent. Die Annahme liegt nahe, dass zwischen der Wahrnehmung von gesellschaftlichen und individuellen Prekarisierungstendenzen, dem Gefühl von Ungerechtigkeit und Demokratiedistanz ein enger
Zusammenhang besteht. Wenn man erwartet, in politische Entscheidungen nicht einbezogen zu sein und eigene Interessen und Erwartungen in den politischen Entscheidungen nicht zur Geltung bringen zu können, dann lässt man auch das Engagement. Dies mag zu dem kontinuierlichen Verlust an Mitgliedern in Parteien, zu der Verringerung der Bindung an bestimmte Parteien und der Zunahme von Nichtwählern beitragen.

Das Interesse an Politik sinkt seit Jahren, die Identifikation mit der Gesellschaft, mit der Demokratie und die Beteiligung gehen zurück. Die Kanäle der Willensbildung und Entscheidungsbeteiligung sind für viele soziale Gruppen und ihre Sicht der Dinge undurchlässig. Die Demokratie entspricht immer weniger dem ihr spezifischen Sinn, einen Ausgleich zwischen dem Interesse der Allgemeinheit und den Interessen aller Einzelnen herzustellen. Diese Spannung wird gestört, wenn die Definition dessen, was als allgemeinverbindlich gilt, nicht als Ergebnis demokratischer Diskussionen und Konflikte betrachtet, sondern durch den Hinweis auf die Natur des Marktes oder Zwänge des Systems von interessierten Gruppen gesetzt wird.

Die Abkehr von der Politik ist gleichzeitig überraschend und nicht verwunderlich. Überraschend, weil sehr viel davon gesprochen wird, dass die Bürgerinnen und Bürger sich stärker engagieren sollten. Das bürgerschaftliche Engagement wird gefördert. Die noch in den 1980er Jahren zu beobachtende Feindseligkeit gegenüber unkonventionellen Formen der Partizipation hat sich deutlich verringert. Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Runde Tische, Planungszellen, Mediationsverfahren und moderierte Gespräche sind zu einem festen Bestandteil des politischen Willensbildungsprozesses in der Bundesrepublik geworden.

Dennoch ist die Bereitschaft, die Proteste von Bürgergruppen und sozialen Bewegungen ernst zu nehmen, in weiten Teilen der Politik und der Medien gering. Die Berichterstattung übergeht die Proteste und verharmlost ihre Bedeutung. Sie ist oft einseitig zu Lasten von Protestierenden.
Angriffe auf die Gewerkschaften und die Mitbestimmung, wie sie vor der Bundestagswahl 2005 geläufig waren, finden sich derzeit nicht mehr in dieser Schärfe. Obwohl sich die Stimmung gegenüber Gewerkschaften, vor allem während der Krise, zum Besseren gewendet hat, ist das öffentliche Verständnis für ihre Politik, Handlungszwänge und Aktionsformen nach wie vor gering; insbesondere Tarifauseinandersetzungen und Streiks werden oftmals bis zur Unkenntlichkeit verzerrt dargestellt, als stünden sie mit den Interessen eines großen Teils der Bevölkerung in keinem Zusammenhang. Angesichts des aus der Bevölkerung zu hörenden Unbehagens und der Kritik an der Politik betonen Politiker immer wieder, dass sie eigentlich gute Politik machten, diese aber nicht gut vermitteln würden. Handelt es sich also bloß um ein Kommunikationsproblem?

Steckt die Demokratie in einer Krise?
Die Medien können die Situation kaum korrigieren. Zwar wird von einer Herrschaft der Medien gesprochen. Die Politiker scheinen sich ihrem Druck zu beugen. Die Willensbildung in den Parteien lässt sich intern kaum noch durch die Teilnahme am Parteileben auf lokaler oder überregionaler Ebene organisieren, sondern ist in hohem Maße durch die Medien vermittelt: der kurze Redeausschnitt vom Parteitag, das Interview mit dem Vorsitzenden einer Partei, das
fröhliche Foto nach einer nichtssagenden Pressekonferenz. Es geht darum, zu den besten Sendezeiten präsent zu sein durch Bilder, in den Talkshows, auf den ersten Seiten. Die Sätze dürfen nicht zu lang, nicht zu kompliziert sein, sie müssen ins Schema der Nachrichten passen. Die Journalisten wollen wenige Sekunden „O-Ton“, selten mehr. Kontroverse Debatten in den Parteien werden von den Medien nicht als fruchtbare demokratische Diskussion um Personal- oder Sachthemen dargestellt, sondern als Streit inszeniert, der die einheitliche Meinung einer Partei und die Stärke ihrer Führung bedrohe. Die Einseitigkeit der Berichterstattung und der Auswahl wissenschaftlicher Experten ist beängstigend. Die Wirklichkeit von Lohnabhängigen, die Diskussionen in den Gewerkschaften, die Konflikte in den Betrieben, die Forderungen und Kämpfe der Beschäftigten werden selten angemessen präsentiert.

In Nachrichten oder Talkshows immer und immer wieder wurde über Jahre das Credo der neoliberalen Agenda heruntergebetet: Wettbewerbsfähigkeit des Standorts, zu hohe Steuern, zu hohe „Lohnnebenkosten“, zu große Bequemlichkeit, Umstellung auf Selbstverantwortung, Eigeninitiative, mehr Leistung. Doch trotz dieses Einflusses der „vierten Gewalt“ sind die Journalisten und Medien nicht nur abhängig von den Eigentümern und der Wirtschaft wie auch von den Politikern und deren Macht, sondern sie bilden mit ihnen vielfach Überzeugungs- und Interessengemeinschaften, ja sogar politische Koalitionen.

Es verwundert nicht, wenn sich angesichts eines solchen Machtkartells, das die Wirklichkeit eines großen Teils der Menschen nicht zur Kenntnis nehmen will, Bürgerinnen und Bürger frustriert vom politischen Prozess zurückziehen. Für die Politik hat dies durchaus angenehme Seiten. Als durch Wahlen legitimiert gelten Politiker auch dann, wenn ihre Wählerschaft sich im Bereich winziger Prozentsätze bewegt. Der politische Prozess wird damit ohne weiteren Begründungsaufwand zu einer Angelegenheit von Experten und Eliten. Aus deren Sicht erweisen sich die Individuen, ihre Interessen und Lebensentwürfe als Störfaktor, als Hindernis bei der Zurichtung der Gesellschaft auf die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit.

In der Wirtschaft und in der Politik gibt es häufig Klagen darüber, dass politische Prozesse in Deutschland zu lange brauchen, Entscheidungen unnötig zerredet würden. Die Verbandsklagerechte wurden eingeschränkt, um die Ausführung politischer Entscheidungen zu beschleunigen. Die Gesellschaft wird zwar in Prozesse des Entscheidens und Ausführens direkt einbezogen, sei es in Form von Verbänden im Rahmen neokorporatistischer Verhandlungen, sei es in der Form informeller Gremien und Netzwerke, sogenannter Governance-Mechanismen, an denen Vertreter von öffentlichen, halböffentlichen und privaten Interessen beteiligt sind. Doch bedeutet dies nicht, dass eine ernsthafte demokratische Beteiligung möglich ist. Der Zugang zu solchen Governance-Netzwerken und die Möglichkeiten, Einfluss zu entwickeln, sind begrenzt und bestimmten Interessengruppen, Experten, Nichtregierungsorganisationen oder Beratungsfirmen vorbehalten, denen zugebilligt wird, dass sie vermeintlich im Interesse des Allgemeinwohls handeln.

In Anbetracht dieser Entwicklungen, die er in den OECD-Staaten beobachtet, hat der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch von der Krise der Demokratie gesprochen, der er den Namen „Postdemokratie“ gegeben hat. Die demokratischen Institutionen seien formal vollkommen intakt und würden sogar in mancherlei Hinsicht noch weiter ausgebaut. Gleichzeitig jedoch entwickelten sich die politischen Verfahren und Regierungen zunehmend auf ein vordemokratisches Niveau zurück, indem der Einfluss privilegierter Eliten zugenommen hätte. Wahlen verkommen zu inszenierten Spektakeln, die Bürger spielten eine passive, schweigende, sogar apathische Rolle, während die reale Politik hinter verschlossenen Türen von Eliten gemacht werde, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten. Die Demokratie scheint demnach ihren vorläufigen historischen Höhepunkt überschritten zu haben.

Die Passivierung und die Marginalisierung ganzer Teile der Bevölkerung und der neue Dezisionismus der Eliten tragen tendenziell zur Aushöhlung der Demokratie bei. Die Entwicklung der Gesellschaft folgt ihrer Schwerkraft, also mächtigen Gruppen. Was hingegen benötigt wird, ist eine demokratische Kultur, in der maßgebend wird, dass für eine Demokratie Diskussionen und Kontroversen notwendig sind. Nicht allein im Sinne eines Pluralismus der Meinungen und Standpunkte, die sich dann alle miteinander im Gleichgewicht des Status quo halten. Die demokratische Diskussion muss sich angesichts der vielfältigen Krisen der kapitalistischen Gesellschaften strategischen Fragen zuwenden: In welche Richtung soll sich die Gesellschaft entwickeln? Welche konkreten Projekte gibt es? Wer schlägt sie vor, wer steht dafür ein?

Warum es so nicht weitergehen kann
Es gibt solche Projekte. Das neoliberale Projekt ist eines davon. Die Politik der vergangenen 20 Jahre war das Ergebnis eines Bündnisses von Neokonservatismus und Neoliberalismus. Der Neoliberalismus hat im Namen der Freiheit der Wirtschaftssubjekte die Sphäre der Demokratie eingeschränkt. Die Vertreter des Marktes beanspruchen zwar Freiheit, aber eigentlich ist dies verwunderlich. Denn letztlich predigen sie mit markigen Worten die pure Anpassung an die Zwänge des Marktes und die Unterwerfung unter die Notwendigkeiten des Wettbewerbes. Alles andere gilt ihnen als mangelnder Realitätssinn. Der Markt wird als Ergebnis der Evolution verstanden. Mit seinen Mechanismen der Preise und des Wettbewerbs soll er die erfolgreiche Weiterentwicklung der Menschheit und die Wohlfahrt sichern, niemand darf sich ihm daher entgegenstellen, die naturgesetzliche Wirkung der Evolution stören und der Gesellschaft Wohlfahrtsverluste zufügen.

Diejenigen, die schwach sind, deren Arbeitskraft nicht benötigt wird, die aus welchen Gründen auch immer nicht mithalten können, werden im Namen der anonymen Gesetze der Evolution als unnötiger Ballast am Rande zurückgelassen. Gemeinsame Entscheidungen über die gemeinsame Zukunft sind nicht vorgesehen. Versprochen werden Wohlfahrt, Innovation, Investitionen, Leistungsgerechtigkeit, nachhaltige Sicherung der Zukunft für die nachfolgenden Generationen, wenn nur alle sich den Gesetzen des Marktes unterordnen.

Das Ergebnis sieht, nüchtern betrachtet, anders aus: Vernutzung der Ressourcen, rückläufige Investitionsraten, Zerstörung von herstellenden Unternehmen, maßlose Bereicherung weniger Vermögensbesitzer und Verarmung großer Teile der Bevölkerungen der verschiedenen Regionen der Erde. Der Neoliberalismus radikalisiert den kapitalistischen Verwertungszwang. Die von ihm favorisierte Strategie zielt auf Gewinne jenseits aller volkswirtschaftlichen Wachstumsprozesse. Dies hat in den vergangenen Jahren immer wieder zu Krisen geführt, seit 2007 gar zur schwersten Krise seit der Großen Depression von 1929. Um Banken und vom Konkurs gefährdete Unternehmen der „Realwirtschaft“ zu retten, hat der Staat Bürgschaften in der Höhe dreistelliger Milliardenbeträge gewährt. Ginge die öffentliche Hand in Deutschland aller Bürgschaften verlustig, dann würde sich das leicht auf eine Billion Euro
und mehr belaufen.

Das neoliberale Modell der Akkumulation des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten weniger Privater ist nicht nachhaltig. Es führt nicht nur zu Krisen, es bewältigt offensichtlich auch keines der drängenden Probleme, mit denen die Menschheit seit Jahrzehnten konfrontiert ist: die Arbeitslosigkeit vieler hundert Millionen Menschen, die schlechte Versorgungslage hinsichtlich Nahrung, Wasser, Bildung, Gesundheit, die Zerstörung der natürlichen Umwelt, die Überkonsumtion mit all den körperlichen und psychosozialen Schäden, die sie bei den Menschen anrichtet, Kriege, die Verletzung der elementaren Menschenrechte, der Rassismus, der Mangel an demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten oder die Unterdrückung von Arbeitnehmerrechten. Jede Wirtschaftskrise macht vorangegangene Erfolge wieder zunichte, vernichtet den von vielen Menschen erarbeiteten Reichtum und kostet das Leben und die Lebenschancen vieler Individuen.

Die Kritik des Neoliberalismus, der im Namen der liberalen Tradition für Freiheit einzutreten beansprucht, wendet sich nicht gegen den Anspruch auf Freiheit, sondern gegen dessen Verständnis von Freiheit. Denn der Neoliberalismus spielt Freiheit gegen Gleichheit aus und macht sie zum Privileg der Zahlungsfähigen, der Vermögenden, der Kapitaleigner. Auf diese Weise wird Freiheit vernichtet, denn Freiheit für wenige ist ein Widerspruch in sich. Entsprechend wachsen der Kontrollwahn, das Sicherheitsbedürfnis, der Ausbau der öffentlichen Überwachung, die Zahl der Gefängnisse und der Eingesperrten. Die Rechtsprechung wendet sich gezielt gegen kleinste Eigentumsdelikte. Seit dem Beginn der kapitalistischen Moderne ging es um die Emanzipation von der als selbst verschuldet erkannten Unmündigkeit; darum also, die von Menschen gemachten, naturhaft wirkenden Prozesse, vor allem die der Wirtschaft, wieder in Gesellschaftliches überzuleiten. Das alltägliche Leben der Individuen soll in allen seinen Aspekten vergesellschaftet und als etwas konstituiert werden, das gemeinsam und öffentlich von allen demokratisch bestimmt werden kann.

Vier Projekte gesellschaftlicher Entwicklung
Derzeit lassen sich vier gesellschaftliche Projekte erkennen, ohne dass über sie im umfassenden und strategischen Sinne demokratisch diskutiert würde.

Erstens das neoliberale Projekt: Es ist ein Projekt des „Weiterso“ mit Standortwettbewerb, Privatisierung öffentlicher Güter, Lohnsenkung, privater Vorsorge – mit allen Folgen der Verarmung, der Entdemokratisierung sowie der Zerstörung der Produktions- und Innovationspotentiale der Gesellschaft und der verschärften Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Selbst die Regulierung der Finanzmärkte soll auf ein Minimum beschränkt bleiben.

Zweitens das Projekt, das freie Märkte mit einem starken Staat verbinden will: Es ist verbunden mit der Vorstellung, den Krisencharakter der kapitalistischen Ökonomie durch Regulierung vermeiden zu können. Die Basis ist ein nach wie vor exportorientiertes Wachstum, wenngleich inzwischen auch der Binnenmarkt gestärkt werden soll. Durch dieses Wachstum soll auch der Sozialstaat bezahlbar bleiben. Die ökologischen Herausforderungen will man in dieses Konzept einordnen; sie werden als zusätzlicher Wachstumsfaktor gesehen. Umverteilung soll nur sehr moderat erfolgen, um Konflikten mit mächtigen Interessenvertretern der Wirtschaft aus dem Weg zu gehen.

Drittens das Projekt des Green New Deal: Es erhofft die Lösung von der Rationalität des Marktes und wird getragen von der Einschätzung, dass die Marktwirtschaft bei entsprechender staatlicher Rahmensetzung selbst eine umweltfreundliche Technologieentwicklung in Gang setzt. Auf flankierende industriepolitische Strategien und sozialpolitische Regulierungen wird weitgehend verzichtet. Die technischen und logistischen Möglichkeiten eines ökologischen Wirtschaftsumbaus werden sehr gründlich ausgelotet, die Konsequenzen für die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dagegen weniger. Soziale Ungleichheit spielt nur eine untergeordnete Rolle. Konzepte einer Demokratisierung auch wirtschaftlicher Prozesse sind kaum vorhanden. Die Ökologie dominiert alle anderen gesellschaftlichen Problemlagen.

Wir plädieren – viertens – gegenüber diesen drei Projekten für einen alternativen Entwicklungspfad, bei dem eine nachhaltige ökonomische Entwicklung mit dem Abbau sozialer Ungleichheit und die Verbesserung der Chancen aller auf ein „gutes Leben“ mit einem umfassenden Demokratisierungsprozess der Gesellschaft verbunden wird.

Die Herausforderung für die Gewerkschaften: ein demokratischer, ökologischer und sozialer Entwicklungsweg Der Leitgedanke eines solchen Entwicklungsweges ist, die Demokratie aus ihrer Erstarrung und Defensive zu befreien. Statt dass die Menschen wachsender Existenzunsicherheit und Ungleichheit ausgeliefert werden, sollte es ihnen möglich sein, die Horizonte für ein von ihnen selbst als gut bewertetes Leben zu öffnen. Das verlangt zuallererst, dass sich das Verhältnis von Politik und Ökonomie ändert.

Nicht mehr die Kräfte des Marktes, sondern bewusste politische Entscheidungen auf der Basis demokratischer Aushandlungsprozesse sollen über Richtung und Wege der Ökonomie entscheiden. Dazu ist eine breite gesellschaftliche Debatte darüber nötig, wie wir zukünftig leben wollen. Diese Debatte sollte nicht in erster Linie von der Abwehr möglicher Bedrohungen und Ängste geprägt sein, sondern auf der Grundlage des erreichten gesellschaftlichen Reichtums, des erworbenen Wissens und der hohen Produktivität kritisch die Möglichkeiten für eine Veränderung unserer Lebensweise und für erweiterte Lebenschancen der Menschen ausloten.

Ein solcher gesellschaftlicher Diskurs führt zwangsläufig zur Frage gesellschaftlicher Orientierungen und Maßstäbe. Wir werden keine Öffnung für einen sozial, ökologisch und demokratisch geprägten Entwicklungspfad erreichen, wenn es uns nicht gelingt, eine breite öffentliche Kritik an den Werten und Maximen der neoliberalen und neokonservativen Ideologien zu üben: an der Entleerung des Freiheitsbegriffs, in dem man ihn von seinen sozialen Voraussetzungen trennt und auf das Recht des Auslebens von Privilegien reduziert; an der Ungleichheit als Motor gesellschaftlicher Entwicklung anstelle des Rechts aller auf gleiche individuelle Entfaltungsmöglichkeiten; nicht zuletzt auch an einem nur noch um den Einzelnen kreisenden Begriff von Selbstverantwortung, der jeden zu einem einsamen Langstreckenläufer macht, statt ihn zu befähigen, mit anderen gemeinsam sein Schicksal in die Hand zu nehmen.

Diese Kritik allein wird nicht genügen. Die Gewerkschaften müssen die für ihr Handeln verbindlichen Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit auf die heutigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse hin konkretisieren und ihren normativen Gehalt entfalten. Dies erfordert auch neue Selbstverständigungsdebatten in den eigenen Reihen.

Kernbestandteil eines alternativen Entwicklungspfades muss ein demokratisch gesteuerter ökologischer Umbau der Ökonomie sein. Er sollte aber ein integraler Bestandteil eines breiten gesellschaftlichen Veränderungsprozesses sein, der nicht zu Lasten anderer drängender sozialer Fragen gehen darf. Was nützt die Produktion von Technik für saubere Energie, wenn sie unter „unsauberen“ Verhältnissen geschieht, wenn keine Tarifverträge vorhanden sind, Betriebsräte verhindert werden, die Arbeitsbedingungen problematisch sind und Dumpinglöhne gezahlt werden, wie das teilweise in der Produktion von Windenergieanlagen der Fall ist?

Gewerkschaften können aufgrund ihrer Erfahrungen mit Industrie- und Strukturpolitik und ihrer Nähe zu den Arbeitsprozessen wesentliche Kenntnisse und Impulse in einen solchen sozial-ökologischen Umbauprozess einbringen. Ihre Kompetenzen könnten insbesondere dort zum Tragen kommen, wo es darum geht, bestehende Betriebe, Wirtschaftszweige und Regionen Schritt für Schritt auf eine ökologisch nachhaltige Wirtschaftsweise umzustellen und zugleich Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen zu verbessern.

Für ökologische Veränderungsprozesse sind das Wissen und die Initiative der Beschäftigten in ihrem Arbeitsumfeld von entscheidender Bedeutung. Dazu sind Beteiligungsprozesse am Arbeitsplatz notwendig. Auch hier können Gewerkschaften einen besonderen Beitrag leisten, wenn es darum geht, Strukturen zu schaffen, in denen die Beschäftigten ihre Kenntnisse und Fähigkeiten einbringen und für den Umbau der Arbeitsprozesse sowie die Entwicklung neuer Produkte nutzbar machen können.

Alle Pläne einer ökologischen Umgestaltung der Wirtschaft stehen allerdings auf schwankendem Boden, solange es nicht gelingt, ökonomische Entwicklungen stärker demokratischen Entscheidungen zu unterwerfen. Schon vor langer Zeit wies Ulrich Beck darauf hin, dass viele, die Gesellschaft und die Politik bindenden, Entscheidungen in einem undurchschaubaren Vorfeld getroffen werden, das dringend der Demokratisierung bedürfte. Was wäre damit gewonnen, wenn ein gigantischer Konzern entsteht, der zwar in der Sahara Strom aus Sonnenenergie gewinnt, dessen Geschäfte aber unkontrollierbar sind und der über ein gewaltiges Erpressungspotential gegenüber allen europäischen Regierungen verfügt.

Unter den Bedingungen des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus haben die Gewerkschaften bittere Erfahrungen mit der willkürlichen Ausübung wirtschaftlicher Macht machen müssen. Immer öfter sind sie in die Rolle des Verteidigers der wirtschaftlichen Zukunft der Betriebe gegen kurzfristige Profiterwartungen geraten. Die Durchsetzung wirtschaftlicher wie ökologischer Nachhaltigkeit und Rückbindung der Unternehmen an gesellschaftliche Verpflichtungen hängt heute wesentlich von der Demokratisierung ökonomischer Macht ab.

Alternativen statt „Sachzwänge“
Die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte und Vertreter der Arbeitnehmerseite in der Unternehmensleitung müssen ausgedehnt werden. Investitionen, Produktionsverlagerungen, Outsourcing, Veräußerungen müssen gesetzlich als mitbestimmungspflichtige Entscheidungsmaterien festgelegt werden. Es gilt, Struktur- und Branchenräte einzurichten, in denen mit gesellschaftlichen Interessengruppen Einfluss auf wichtige Investitionsentscheidungen genommen werden kann. Dort, wo Belegschaften für den Erhalt von Unternehmen „Opfer“ bringen, muss dies einen Ausgleich durch Beteiligungsrechte finden. Ohne sich auf die Frage der Eigentumsformen zu fixieren, könnte hier ein Prozess einer tatsächlichen schrittweisen Vergesellschaftung von wirtschaftlicher Macht zur Durchsetzung eines sozialen und nachhaltigen Wirtschaftens vorangebracht werden.

Eine „Achillesferse des modernen Kapitalismus“ bleibt die immer stärker werdende soziale Ungleichheit, verbunden mit dem Anwachsen unsicherer Arbeitsverhältnisse, dem Ausufern des Niedriglohnsektors, einer chronisch gewordenen Massenarbeitslosigkeit und dem Auseinanderdriften der Bildungschancen. Die spaltet die Gesellschaft vielfältig, nährt gefährliche Konflikte und droht demokratische Strukturen auszuhöhlen. Diese Ungleichheit ist zu erheblichen Teilen Produkt politischer Entscheidungen. Sie ist nicht ohne energische Umverteilungsschritte, eine Vitalisierung des Öffentlichen, eine Reaktivierung des Sozialstaates und politische Rahmensetzungen wie Mindestlöhne umzukehren.

Eine Schlüsselfunktion bei der Herstellung von mehr und gerechter verteilten Lebenschancen kommt einer Bildungspolitik zu, die sich an Förderung statt Selektion orientiert. Trotz aller Beschwörungen ist der Bildungsbereich nach wie vor stark unterfinanziert, strukturkonservativ und vom föderalen Zuständigkeitschaos blockiert. In der öffentlichen Debatte treffen die Verteidigung sozialer Privilegien und emanzipative Ansprüche hart aufeinander.

Existenzunsicherheit und Arbeitslosigkeit gehören zu den schwersten Belastungen von Lebensperspektiven. In den dringend erforderlichen sozialen, familiennahen und bildungsbezogenen Dienstleistungen liegen große Potentiale dafür, Arbeitslosigkeit abzubauen und die nach wie vor vorhandenen geschlechtsspezifischen Diskriminierungen zu verringern. Ähnliche Wirkungen können von einem sozialverträglich gestalteten ökologischen Wirtschaftsumbau und einer auf Forschung und Innovation beruhenden nachhaltigen Industriepolitik ausgehen.

Ein solcher Entwicklungsweg muss nicht neu erfunden werden. In den meisten gesellschaftlichen Bereichen existieren schon länger produktive Debatten und Vorschläge über alternative Entwicklungsmöglichkeiten. Sie stammen von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Akteuren. Doch werden diese auch ernst genommen? Blockieren nicht Macht und partikulare Interessen gesellschaftliche Lernprozesse? Solche Vorschläge müssen stärker in das öffentliche Bewusstsein gelangen und sich mit Prozessen verbindlicher demokratischer Selbstbestimmung verbinden. Anstelle der naturwüchsigen
Sachzwängen das Wort redenden neoliberalen Ideologien muss ein Denken
in Alternativen treten.

„Weiter so“ geht nicht
Wir wissen , dass ein „Weiterso“ uns aus den Sackgassen nicht herausführen wird, sondern die Dynamik komplex aufeinander wirkender Krisen – in der Wirtschaft, in der Bildung, im Bereich von Energie und Umwelt – nur verschärfen kann. Es zeichnet sich ab, dass die Zumutungen an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in vielen Aspekten ihres Lebens weiter wachsen werden. Die Gewerkschaften können sich nicht auf die Abwehr der Krisenfolgen beschränken. Sie müssen auch nach alternativen Wegen suchen, um die elementaren Interessen ihrer Mitglieder ebenso wie die der Gesellschaft langfristig vertreten zu können. Es geht darum, mühsam Errungenes zu erhalten, vor allem aber geht es darum, gemeinsam mit anderen Kräften neue Initiativen zu ergreifen, die Demokratie wieder mit Leben zu füllen und neue Spielräume für ein gutes, selbst gestaltetes Leben zu schaffen.

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