Wie ein Flüchling die tägliche Angst vor dem Tod hinter sich ließ
Die zwei Leben des Mohamad Al-Taha

Vor neun Jahren floh Mohamad Al-Taha aus dem Irak nach Deutschland. Der Krieg hatte sein Land verändert und sein Leben. In Deutschland hat er die tägliche Angst vor dem Tod hinter sich gelassen. Er hat eine Ausbildung gemacht, eine Stelle als Mechatroniker gefunden.

29. Oktober 201529. 10. 2015


Es muss zwei Mohamad Al-Tahas geben. Den lebensfrohen, der nie die Zuversicht verliert, und den traurigen, für den der Tod zum ständigen Begleiter geworden ist. Der Erste hat seiner IG Metall Betzdorf irakische Süßigkeiten mitgebracht. Zuckergebäck, das an den Fingern klebt und auf der Zunge zergeht. Die IG Metall ist umgezogen. „Zum Einzug bringt man Süßigkeiten mit, so kenn ich das von uns im Irak“, sagt Mohamad. Von dem zweiten, dem traurigen Mohamad, erzählt er. Dabei fällt er oft in den regional gefärbten Tonfall des Westerwalds.

Der 30-Jährige floh vor neun Jahren aus dem Irak nach Deutschland. „2006 war das schlimmste Jahr im Irak“, sagt Mohamad, „Schiiten und Sunniten gingen aufeinander los.“ Er erzählt von Freunden, die nur mit unterschiedlichen Papieren auf die Straße gingen, um sich je nachdem als Anhänger der einen oder anderen Gruppe auszuweisen. Von den vielen Freunden und Verwandten, die er buchstäblich zu Grabe getragen hat. „Ich will nicht sagen, dass ich gelitten habe“, sagt Mohamad. „Der Tod ist einfach Alltag geworden. Früher haben wir um jeden Einzelnen tagelang getrauert. Aber dafür sind einfach zu viele gestorben.“
 
In der achten Klasse sei er mit einer Kalaschnikow nach Hause gekommen. Er habe üben sollen, sie auseinander- und wieder zusammen zu bauen. Da habe sein Vater beschlossen, dass er in einem solchen Land nicht leben will. 2001 verließ er den Irak und holte zwei Jahre später Frau und Kinder nach. Die Familie ging nach Syrien. Mutter und Geschwister flohen von dort nach Deutschland. Mohamad blieb in Syrien zurück. Weil er fast 18 war, wurde ihm die Weiterreise verweigert. Er kehrte in den Irak zurück und begann ein Informatikstudium. „Alles war zerstört, aber es war meine Heimat.“ Mohamad lebte bei seiner Tante. Wenn er das Haus verließ, verabschiedete er sich jedes Mal von ihr, als würde er sie nicht mehr wiedersehen. Damals wusste er nicht, ob er abends wieder lebend nach Hause kommen würde. Einmal sei nur wenige Hundert Meter von ihm entfernt eine Autobombe hochgegangen.

Mohamad beschloss, zu seiner Familie zu fliehen. Wie er dorthin gekommen ist, weiß er nicht. „Ich habe nur gemacht, was man mir gesagt hat. Wenn man mir gesagt hat, geh dorthin, bin ich dorthin gegangen. Wenn man mir gesagt hat, steig da um, bin ich dort umgestiegen. “Das letzte Stück verbrachte er in einem Lkw, eingeklemmt zwischen Kartons. Er hatte sich den Fuß verstaucht und konnte ihn nicht bewegen. Mit geschwollenem Fuß kam er in einer Flüchtlingsunterkunft in Deutschland an.

Anfangs lastete noch die Trauer auf ihm. „Ich wollte nur zu Hause sitzen, nicht rausgehen. “Als Geduldeter sah er keine Perspektive. Er durfte erst nicht arbeiten, später konnte er nicht jede angebotene Stelle annehmen. Geduldete müssen sich bei der Arbeitsplatzsuche hintenanstellen, hinter deutschen Arbeitnehmern und Ausländern mit besserem rechtlichem Status. Für Mohamad bedeutete das: fünf Jahre Stillstand zwischen Duldung und drohender Abschiebung. 2011 bekam er eine Ausbildung, zum Gebäudereiniger. Mohamad lacht: „Was für eine Karriere: vom Informatikstudent zum Fensterputzer. Aber ich dachte: Egal, Hauptsache ich kann arbeiten.“

Dann sagte ihm ein Freund, er solle sich bei Elco in Betzdorf bewerben. Statt eines Hilfsjobs bot ihm der Autozulieferer eine Ausbildung zum Mechatroniker an. „Ich war nur geduldet, trotzdem hat Elco mich genommen“, sagt Mohamad. „Ohne meinen Betrieb wäre ich heute nicht hier. Das rechne ich Elco hochan.“ Damals saß er als 26-Jähriger zwischen 16- und 17-Jährigen und zweifelte, ob er die Ausbildung schaffen würde. Er schaffte sie und bekam einen Jahresvertrag.

Doch auch mit einem befristeten Vertrag konnte Mohamad jederzeit abgeschoben werden. Das hielt ihn nicht davon ab, beim Streik um einen Tarifvertrag dabei zu sein. Dort fiel er Uwe Wallbrecher, Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Betzdorf, zum ersten Mal auf. „Mohamad ging jedes Mal mit raus.“ Wallbrecher staunt noch immer über dessen selbstlosen Einsatz. Mohamad zuckt mit den Schultern. „Mir war meine Situation nicht so wichtig. Wichtiger war, dass jeder bekommt, was ihm zusteht.“

Mohamad steht eine sichere Zukunft in Deutschland zu, findet Wallbrecher. Deshalb setzte er sich bei Elco dafür ein, dass er einen unbefristeten Vertrag bekommt. Und: Die IG Metall unterstützt Mohamad, einen unbefristeten Aufenthalt zu bekommen. Anspruch auf einen unbefristeten Aufenthalt hat er nach fünf Jahren. Einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel besitzt er seit einem Jahr und erst seitdem zählt die Zeit. Die Jahre der Duldung werden nicht gezählt. Das heißt, er wird weiter nur eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr bekommen. „Damit kann ich nicht mal einen Handyvertrag abschließen.“ Der läuft über zwei Jahre und auf dieses Risiko lassen sich die Anbieter nicht ein. Mithilfe der IG Metall will er nun erreichen, dass die Ausländerbehörde seinen Fall überdenkt.

Beruflich hat er eine sichere Perspektive. Seit 1. Oktober ist er unbefristet bei Elco beschäftigt. Als ihm die Personalchefin den neuen Vertrag präsentierte, war er sprachlos. „Mir ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen.“ Der traurige Mohamad ist in Deutschland verschwunden und der lebensfrohe zurückgekehrt. Jener Mohamad, der er auch in seiner Kindheit im Irak war. Vor dem Krieg habe er wie viele Kinder in Deutschland gelebt. Er ging zur Schule, spielte auf der Straße. Er hatte einen Hund. Dann kam der Krieg und der Traum war vorbei. „In Deutschland“, sagt Mohamad, „hat der Traum wieder angefangen.“
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