Seit 20 Jahren gibt es die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft. Sie wird auch kurz SE genannt, was für Societas Europaea steht. Die SE ermöglicht es, ab 1000 Beschäftigten europäische Betriebsräte einzurichten, um die Interessen der Belegschaft zu vertreten. Eine der ersten deutschen Unternehmen, die sich von der Aktiengesellschaft AG in eine Europäische Aktiengesellschaft umwandelten, war Allianz. Von heute über etwa 700 SEs in der EU haben viele ihren Sitz in Deutschland. Dabei handelt es sich überwiegend um Unternehmen aus dem Organisationsbereich der IG Metall.
Die Bilanz zum 20-jährigen Jubiläum der Europäischen Aktiengesellschaft ist ernüchternd: Die Mitbestimmung in Deutschland wurde durch die Einführung der SE geschwächt. Das ist der Befund einer Studie des IMU-Instituts der Hans-Böckler-Stiftung. Fünf von sechs der aktiven deutschen SE haben keinen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, wie ihn Aktiengesellschaften nach deutschen Recht haben müssen. „20 Jahre SE in Deutschland sind leider kein Grund zum Feiern, sondern zur Sorge“, stellt der wissenschaftliche Direktor des IMU, Daniel Hay, aufgrund der Analyse fest. „Die Zahl der SE und damit legale Mitbestimmungsvermeidung nimmt immer weiter zu. Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) ist ein Kernproblem für die Mitbestimmung“, heißt es in der Studie.
Die Ergebnisse belegen die Notwendigkeit von Gesetzesreformen auf Europäischer Ebene zum Schutz der paritätischen Mitbestimmung. Die Gewerkschaften beobachten schon lange mit Sorge, dass immer mehr deutsche Unternehmen sich umwandeln in eine Europäische Aktiengesellschaft. Sie fordern, dass eine SE nicht dazu missbraucht werden darf, den Beschäftigten Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten und die Mitbestimmung zu unterlaufen.
Mitbestimmung in einer Kapitalgesellschaft deutschen Rechts steht dagegen auf breiterem Fundament. Die Arbeitgeberbank und die Arbeitnehmerbank haben gleich viele Stimmen in Unternehmen über 2000 Beschäftigten, sie sind paritätisch besetzt. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen immer wieder, dass im Aufsichtsrat mitbestimmte Unternehmen sozial nachhaltiger und wirtschaftlich erfolgreicher sind. Sie kommen besser durch Wirtschaftskrisen. Die Beteiligung der Arbeitnehmervertreter hilft, Umbruchphasen wie in der aktuellen Situation besser zu bewältigen.
Vor kurzem wurde mit dem sogenannten Olympus-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ein weiteres Einfallstor geschaffen, das die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten über die Rechtsform der SE aushebeln kann. Im Fall einer arbeitnehmerlos gegründeten Holding-SE müssen keine Verhandlungen über Beteiligungsvereinbarungen mit Beschäftigten und Gewerkschaft nachgeholt werden, wenn die SE bei ihrer Gründung keine Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt hat und im Nachgang als Holding von mehreren Unternehmen mit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eingesetzt wird.
Die Auswirkungen des Olympus-Urteils sind weitreichend. Es ermöglicht, arbeitnehmerlose Holding-SEs als Hülle zu gründen, die keine Mitbestimmungsrechte etablieren müssen – selbst wenn später Beschäftigte hinzukommen. Dies gefährdet nicht nur den sozialen Dialog, sondern auch die Stabilität des deutschen Systems der industriellen Beziehungen. Die jüngste Entwicklung bestätigt erneut die Einschätzung von Gewerkschaften und Betriebsräten, dass die SE sich immer mehr zum Mitbestimmungsvermeidungsinstrument entwickelt.
Weiterführende Links:
Unternehmensmitbestimmung unter Druck! – DGB