Dem Handwerk fehlt Nachwuchs
Wir für eine attraktivere Ausbildung

Im Handwerk werden tausende Ausbildungsplätze nicht besetzt. Der Grund: Die Ausbildung ist nicht attraktiv genug. Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Betriebe Tarifverträge ablehnen.

13. Oktober 201713. 10. 2017


Mit dem alten Spruch „Handwerk hat goldenen Boden“ muss man jungen Leuten nicht mehr kommen. Für Jugendliche, die nach der Schule eine berufliche Perspektive suchen, sind Handwerksbetriebe nur selten die erste Wahl. Lieber studieren sie. Oder sie gehen in die Industrie, die in der Regel bessere Ausbildungsbedingungen, mehr Geld und kürzere Arbeitszeiten bietet.

Nur Kfz-Werkstätten können ihre offenen Ausbildungsplätze, zumindest im Westen, meist noch besetzen. Sie profitieren davon, dass Kfz-Mechatroniker seit vielen Jahren unangefochten auf Platz eins der Lieblingsberufe junger Männer steht. Aber andere Branchen, wie zum Beispiel Elektro-, Heizung- und Sanitär- Handwerk, tun sich schwer damit, Nachwuchs zu finden. Besonders in Ostdeutschland.


Schädliche Unterbietungskonkurrenz

Aus Sicht der IG Metall haben die Handwerksbetriebe und ihre Verbände die Probleme selbst geschaffen. In den vergangenen Jahren hat ein regionaler Verband nach dem anderen der Tarifbindung den Rücken gekehrt, weil ihre Mitgliedsfirmen die Löhne senken wollten und sich von Preisdumping und Unterbietungskonkurrenz Vorteile im Wettbewerb mit anderen versprachen. So sind zum Beispiel im Kfz-Handwerk in Hessen durch den Ausstieg der Landesinnung seit diesem Monat 3600 Werkstätten und Autohäuser nicht mehr tarifgebunden. Für Firmen, die tarifgebunden bleiben wollen, gründete der Verband eine eigene neue Tarifgemeinschaft; ihr gehören aber noch nicht einmal mehr hundert Betriebe an.


Ausbildung erster und zweiter Klasse

Ob für einen Betrieb Tarifverträge gelten oder nicht, macht für einen Azubi einen Riesenunterschied. Nach Tarif erhält er in Hessen im ersten Ausbildungsjahr 740 Euro monatlich an Vergütung. Gilt kein Tarifvertrag, stünden ihm nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts nur 80 Prozent davon zu ― wenn er das Geld vor Gericht einklagt. Also nur 592 Euro.

Im vierten Ausbildungsjahr bekommt der tarifgebundene Azubi 966 Euro, der nicht gebundene 772,80 Euro. Über die ganze dreieinhalbjährige Ausbildungszeit summiert sich der Unterschied auf 7020 Euro.

Der tarifgebundene Azubi hat zudem eine kürzere Arbeitszeit: 36 statt der gesetzlichen 40 Stunden pro Woche. Und mehr Urlaub: 30 statt 24 Tage. Nach erfolgreicher Abschlussprüfung muss er außerdem, wenn er das will, ab einer Betriebsgröße von 30 Beschäftigten mindestens zwölf Monate übernommen werden. Ohne Tarifvertrag gibt es diesen Anspruch nicht.


Zurück zum Tarif

Mit der massenhaften Flucht aus den Tarifverträgen schneiden sich die Handwerksbetriebe ins eigene Fleisch. Denn die Ausbildungsbedingungen, die sie bieten, werden im Vergleich zu denen der Industrie immer unattraktiver. Die Folge: Zuerst fehlen die Auszubildenden ― und danach die Fachkräfte.

„Wenn sich das Handwerk im Wettbewerb um qualifizierte Beschäftigte behaupten will, braucht es gute Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen“, sagt Ralf Kutzner, der im IG Metall-Vorstand für das Handwerk zuständig ist. „Dazu gehören Tarifverträge, die für alle Betriebe in dem Bereich, für sie sie abgeschlossen wurden, gelten. Und auch Investitionen in die Fort- und Weiterbildung.“

Das sei nicht nur im Interesse der Beschäftigten, sondern auch der Betriebe. Nur so können Handwerksbetriebe Fachkräfte gewinnen und verhindern, dass sie in die Industrie abwandern, wenn dort gute Angebote winken.


Verbände und Politik müssen umsteuern

Kutzner fordert die Verbände und Innungen auf, dem Bekenntnis zur Tarifpartnerschaft, das sie öffentlich gerne formulieren, Taten folgen zu lassen. Auch die Qualität der Ausbildung müsse besser werden. „Dazu gehört, dass die Handwerkskammern sie stärker überwachen und prüfen, ob die tariflich festgelegten Standards eingehalten werden.“

Auch die Politik müsse ihren Beitrag leisten, sagt Kutzner angesichts der anstehenden Koalitionsverhandlungen in Berlin. „Es ist überfällig zu überprüfen, wie die Innungen und ihre Landesverbände ihre Aufgaben wahrnehmen.“ Sie sind öffentlich-rechtliche Institutionen, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind. „Die Politik“, fordert Kutzner, „muss ihre Aufgaben als Tarif- und Sozialpartner festlegen.“

Wirtschaftspolitik - Arbeitsmarkt
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