Betriebsrätepreis 2018
Mut machende Projekte

Für sein Engagement, Geflüchtete mittels Praktika in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist der Betriebsrat von Siemens Leipzig mit den Betriebsrätepreis in Bronze ausgezeichnet worden. Einen Sonderpreis erhielt der Betriebsrat von VW Nutzfahrzeuge in Hannover.

9. November 20189. 11. 2018


Jetzt brandet Applaus auf, jetzt ist der Moment nach vorne zu gehen, den Preis in Empfang zu nehmen, einen Preis, der Michael Hellriegel, das zeigt sein Lächeln, das sagt er danach, glücklich und stolz macht, natürlich – für den er sich aber am Anfang gar nicht bewerben wollte. Nicht, weil er den Betriebsrätepreis, der heute hier im Plenarsaal in Bonn feierlich verliehen wird, gering schätzt, ganz und gar nicht. Eher stimmt das Gegenteil: Sich um den Preis zu bewerben, der Gedanke lag Betriebsrat Michael Hellriegel deshalb fern, weil er in seiner Arbeit nichts Außergewöhnliches sah. "Wir machen doch nichts Besonderes. Wir bieten doch nur Geflüchteten Praktika an«, dachte der Vorsitzende des Betriebsrats von Siemens in Leipzig. Andere ermutigten ihn: „Doch, das ist was Besonderes, bewerbt Euch.“

Es hat sich gelohnt: Für ihre leidenschaftliche Arbeit, für ihr großes Engagement, Geflüchtete mittels Praktika in den Arbeitsmarkt zu integrieren, ist der Betriebsrat von Siemens Leipzig jetzt mit den Deutschen Betriebsräte-Preis 2018 in Bronze ausgezeichnet worden.


Hofmann: „Echte Integration im Betrieb“

Dass die Arbeit von Michael Hellriegel und seinem Team etwas Besonderes, etwas Wichtiges, etwas Bedeutendes ist, das bekräftigte auch Jörg Hofmann: „Unsere Gesellschaft ist vielfältig. Unterschiedlichste Nationalitäten, Kulturen und Religionen finden in ihr Platz“, sagt der Erste Vorsitzende der IG Metall in seiner Laudatio. „Ich bin davon überzeugt: Dem Betrieb kommt auch bei der Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden eine ganz entscheidende Rolle zu. Ihr habt mit Eurem Projekt in vorbildhafter Weise gezeigt, wie echte Integration im Betrieb und in den Arbeitsmarkt und damit auch das 'Ankommen' in unsere Gesellschaft gelingen kann. Dafür gilt Euch ein großer Dank.“

 

Stolze Preisträger in Bonn: Michael Hellriegel, Betriebsratsvorsitzender von Siemens Leipzig mit seinem Team und IG Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann. Foto: Deutscher BetriebsräteTag


Der Anfang des Projektes liegt dreieinhalb Jahre zurück, er war im Sommer 2015, zu einer Zeit, als viele Menschen nach Deutschland flüchteten. Da spürte Michael Hellriegel: „Da sind viele gefordert, um das zu bewältigen.“ Der Betriebsrat sammelte Spenden und überlegte, wie sie geflüchteten Menschen bei einem Neuanfang helfen können. Da die meisten keine Arbeitserlaubnis haben, kamen reguläre Jobs nicht infrage, Praktika schon.

Der Betriebsrat fragte in allen Abteilungen, wer Praktika für Geflüchtete anbieten kann. Die Antwort: sehr viele. Die Unternehmensleitung zog mit und die Agentur für Arbeit schickte Bewerber. 2016 bekamen elf Geflüchtete ein Praktikum im Leipziger Werk. Es waren Praktika, die über ein Pflichtpraktikum weit hinausgingen – und die mit Mindestlohn vergütet wurden. Dazu gab es eine zentrale Regelung bei der Siemens AG. Geflüchtete wurden also nicht einfach nur als billige Arbeitskräfte missbraucht und so auch nicht gegen die Stammbelegschaft ausgespielt.


Geflüchteten beim Neuanfang helfen

Michael und seinem Team war das nicht genug. Ein Jahr später, 2017, ging der Betriebsrat auf Siemens-Zuliefererfirmen zu und forderte sie auf, ebenfalls Praktika anzubieten. So konnte 2017 ein afghanischer Flüchtling bei einem Zulieferer ein Praktikum absolvieren. Und zahlreiche Absolventen fanden danach eine Ausbildung oder Anstellung. Drei Geflüchtete befinden sich aktuell bei Siemens Leipzig in der Ausbildung – einer davon, ist an diesem Tag in Bonn mit dabei. „Aman Alaeli ist vor drei Jahren zu Fuß von Syrien nach Deutschland gelaufen“, erzählt Michael Hellriegel. „Er war der erste Praktikant im Programm und steht jetzt kurz vor Ausbildungsende zum Elektroniker für Betriebstechnik bei Siemens.“

Für Michael Hellriegel braucht es drei Dinge, um Geflüchteten zu helfen. „Guten Willen, eine Betriebsleitung, die es unterstützt, und einen Buddy.“ Bei Siemens in Leipzig hat jeder Praktikant einen Betreuer. Buddy-Sys­tem nennt es der Betriebsrat. Auch Michael Hellriegel begleitet einen jungen Mann. Er half ihm, sich für einen Schulabschluss anzumelden, und ging mit ihm zur Ausländerbehörde. Das Projekt nutzt nicht nur Geflüchteten. „Wo lernt man sonst im Alltag geflüchtete Menschen kennen?“, fragt Hellriegel. „Bei uns können sich Beschäftigte selbst ein Bild machen, wer diese Menschen sind und was sie erlebt haben.“


Buddy-System

Sich ein umfassendes, detailliertes Bild machen, anhand dieses Bildes eigene Schlüsse ziehen und diese dann beteiligungsorientiert, mit großen Engagement und großer Ausdauer, nach vorne entwickeln, das hat auch der Betriebsrat von VW Nutzfahrzeuge in Hannover getan – und ist dafür nun in Bonn mit dem Sonderpreis in der Kategorie „innovative Betriebsratsarbeit“ ausgezeichnet worden.

„In eurem Projekt geht es um mehr Selbstbestimmung und Beteiligung am Arbeitsplatz“, sagte Jochen Schroth, Ressortleiter Vertrauensleute und Betriebspolitik beim Vorstand der IG Metall in seiner Laudatio. „Ihr habt es euch zum Ziel gesetzt, die Arbeitsplätze in der Produktion stärker an den Bedürfnissen der Beschäftigten auszurichten und eine innovative Arbeitsorganisation weg vom Fließband hin zu ganzheitlichen Tätigkeiten mit maximaler Taktzeit zu verwirklichen.“ Mit dem „Leitbild Mensch“, das der Betriebsrat entwickelt habe, sei es gelungen aufzuzeigen, „wie die digitale Transformation im Sinne guter Arbeit gestaltet werden kann“, betonte Jochen Schroth.


Leitbild Mensch

Ausgangspunkt des Projektes war für den Betriebsrat die Erfahrung, dass es bei der Einführung von neuer Technik im Unternehmen nur selten um die Frage geht, was die Beschäftigte davon haben. Das wollte der Betriebsrat von VW Nutzfahrzeuge in Hannover ändern und entwarf ein Gegenmodell zum typischen Planungsverfahren: das Leitbild Mensch. Arbeitsplätze sollen nicht nur digitaler werden, sie sollen auch flexibler, selbstbestimmter, ganzheitlicher werden. Das Ziel fasst Betriebsratsreferent Sven-Thorben Krack zusammen: „Technik muss dem Menschen dienen.“

Krack und seine Betriebsratskollegen suchten sich Mitstreiter im Unternehmen. Die IG Metall unterstützte sie mit dem Projekt Arbeit und Innovation. „Vor allem der Austausch mit anderen Kollegen und die Seminare haben uns sehr geholfen. Damit konnten wir uns einen Überblick über das Thema verschaffen“, sagt Detlef Burghardt, Betriebsrat in der Montage.


Aus der Sprechblase auf den Hallenboden

Gemeinsam mit dem Arbeitgeber formulierte der Betriebsrat Ziele, umriss Aufgaben wie Qualifizierung, Arbeitszeitmodelle oder gute Arbeit und verfasste eine gemeinsame Erklärung zum Leitbild Mensch. „Nun muss aus den Sprechblasen etwas werden, das die Arbeit auf dem Hallenboden spürbar verbessert“, sagt Burghardt. Darum geht es in ihren ersten Projekten. In einem Pilotprojekt wollen sie mithilfe von Arbeitszeitmodellen den Wünschen der Beschäftigten in der Montage nach Teilzeit nachkommen und mit Fachrollen die Arbeit vielfältiger machen.

Beschäftigte in der Cockpitfertigung beklagten häufig, dass sie viel von ihrem Wissen gar nicht anwenden können. Wer will, kann nun eine Fachrolle übernehmen. Bei diesem Konzept sind zehn Prozent der Arbeitszeit indirekten Arbeiten vorbehalten, wie eine Störung zu beheben oder sich mit der Instandhaltung auszutauschen. So wird die Arbeit vielfältiger, ohne dass die Belastung steigt. Die Fachrolle gibt Beschäftigten die Chance, ungenutztes Wissen einzusetzen. Dem Betriebsrat geht es aber auch darum, Beschäftigte für neue Aufgaben zu qualifizieren. „Die Digitalisierung in der Produktion nimmt zu. Diese Arbeit sollen nicht Leute von außen erledigen, sondern die Beschäftigten in der Montage selbst. Damit nicht nur die einfachen und zukünftig weniger werdenden Arbeiten in der Montage bleiben“, sagt Betriebsratsreferent Sven-Thorben Krack. 

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