60 Jahre Römische Verträge
Was Europa erreicht hat und was sich ändern muss

Am 25. März 1957 unterzeichneten sechs Länder die Römischen Verträge – sie legten den Grundstein für die Europäische Union und schufen die Grundlagen für das Leben, das wir heute leben: ohne Grenzen, ohne Zölle, in Frieden und Freiheit. Dieses Fundament ist in Gefahr.

24. März 201724. 3. 2017


Welch ein Aufbruch, an diesem Märzvormittag vor 60 Jahren in Rom, was für eine Begeisterung: Kinder mit Fähnchen säumen die Straßen, Schaulustige drängen sich auf den Bürgersteigen, abgedunkelte Limousinen bahnen sich ihren Weg hinauf zum Kapitol. Oben, vor dem Konservatoren Palast, öffnen sich Türen, knirscht Kies, blitzen Kameras. Glockengeläut von den Kirchen, die Reporter zücken ihre Stifte, die Fotografen stellen die Linsen scharf – um ja nichts zu verpassen von diesem feierlichen Vormittag in Rom, der Geschichte schreiben wird.


Römische Verträge prägen unser Leben bis heute

Am 25. März 1957 unterzeichneten die Vertreter Frankreichs, Italiens, Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Deutschlands im großen Saal des Konservatoren-Palast die Verträge über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom). Die Verträge gehen als „Römische Verträge“ in die Geschichtsbücher ein – und man kann sich jetzt fragen, was sie mit einem selbst, mit unserem Leben im Frühjahr 2017 zu tun haben.

Um es vorweg zu sagen: sehr viel. Bis heute prägen die Römischen Verträge das Leben von uns allen, von über 550 Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Europa.


Vision einer freien, solidarischen Gemeinschaft

Die sechs Gründerstaaten setzen sich zum Ziel, mithilfe von europäischen Institutionen wirtschaftlichen Fortschritt und friedliches Zusammenleben auch in Zukunft zu gewährleisten. Sie wollen Handelsbarrieren ab- und eine gemeinsame Zollpolitik aufbauen, sie wollen Rechtsvorschriften aneinander angleichen, einen freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital- und Warenverkehr schaffen und eine friedliche Nutzung von Atomenergie sicherstellen. In Rom wird damit das Fundament für die Europäische Union errichtet: ein Staatenverbund von 27 Nationen, der gemeinsame Handels- und Wirtschaftspolitik verfolgt. Und es werden die Grundlagen des Lebens geschaffen, das wir heute leben: ohne Grenzen, mit umfassender Freizügigkeit, in Frieden und Freiheit. Grundlage ist die Idee, dass Menschen in einer freien, gerechten, solidarischen Gemeinschaft zusammenleben.

Und genau das, dieses Fundament, ist heute in Gefahr.


Vertrauen verloren, Populisten profitieren

Die Briten wollen raus aus der Europäischen Union, in Frankreich steht mit der Präsidentschaftswahl bald die nächste Entscheidung für oder gegen Europa an. Die soziale Ungleichheit innerhalb Europas hat sich verschärft, das Vertrauen der Menschen in die europäischen Institutionen ist geschwächt. Populistische Bewegungen profitieren überall in Europa von der zunehmenden Unzufriedenheit vieler Menschen.

Das gemeinsame Europa droht auseinanderzubrechen. Ausgerechnet im Jahr seines 60. Geburtstags.

Rechtspopulistische Parteien treiben einen Keil zwischen die Menschen; sie schüren Ängste, Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit. Ihre Forderung, Europa zu verlassen und zum Nationalismus zurückzukehren, ist gefährlich – denn Nationalismus, das formulierte eindringlich einmal der ehemalige französische Präsident François Mitterand, Nationalismus bedeutet immer Krieg.


Soziale Schieflage in vielen Ländern Europas

Das Brexit-Referendum der Briten ist nur scheinbar Ausdruck der Krise der Europäischen Union. Eher verweist es auf eine politische und soziale Krise innerhalb Großbritanniens. Britische Gewerkschaften betonen das seit Langem. Anhaltende Deindustrialisierung, der stetige Abbau von Jobs in der Produktion, dazu Kürzungen bei Sozialleistungen und im Gesundheitssystem haben die Unsicherheit der Menschen und die soziale Kluft im Land vergrößert, analysiert etwa Ian Waddell von der britischen Gewerkschaft Unite. Diese soziale Schieflage sei der eigentliche Nährboden für Populisten und die Leave-Kampagne gewesen. Und die soziale Schieflage ist nicht nur in Großbritannien, sondern in vielen anderen Ländern Ursache für die Krise der Europäischen Union. Letztlich geht es um die Frage, ob die EU zusammengehalten werden kann oder auseinanderbricht.


Vor allem junge Menschen im Süden chancenlos

Seit mittlerweile über acht Jahren steckt die Europäische Union in einer Finanz- und Wirtschaftskrise. Länder wie Griechenland und Spanien leiden nach wie vor unter sozialer Unsicherheit und hoher Arbeitslosigkeit. Vor allem junge Menschen im Süden Europas haben keine Chancen auf gute Arbeit, auf soziale, auf finanzielle Sicherheit. Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass viele Menschen Zweifel haben, dass Politik ein gutes Leben, Sicherheit und Wohlstand schaffen kann. Die Gefahr ist, dass sich die ökonomische Krise Europas weiter zu einer sozialen und politischen auswächst, wenn die Ungleichheiten nicht stärker bekämpft werden.


IG Metall fordert Kurswechsel in der europäischen Politik

Damit aber die wachsende Ungleichheit bekämpft werden kann, ist es notwendig, die aktuelle Finanz- und Wirtschaftspolitik zu beenden. Es war die Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise im Jahr 2008, die hauptsächlich in den südlichen europäischen Ländern eine schwere ökonomische Krise ausgelöst hat. Es war allerdings die europäische Krisenpolitik, die mit Sparzwang, dem Abbau von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten die Wirtschaftskrise zusätzlich verschärfte. Die IG Metall fordert deshalb einen Kurswechsel in der europäischen Politik. „Weg vom Sparzwang hin zu verstärkten Investitionen in Europa, in seine Infrastruktur, vor allem aber in seine Menschen“, sagt Wolfgang Lemb, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.


Tariflandschaft in Griechenland wieder aufbauen

Die soziale Spaltung in Griechenland beispielsweise lässt sich nach Überzeugung der IG Metall nur überwinden, wenn der Arbeitsmarkt wieder stabilisiert wird. „Dazu muss die Tariflandschaft in Griechenland wieder aufgebaut werden“, erklärte Wolfgang Lemb auf der Tagung „Wiederaufbau statt Deregulierung in Griechenland“ in Frankfurt. In Griechenland gab es bis 2010 in fast allen Branchen Tarifverträge, die für allgemeinverbindlich erklärt wurden. Durch die Auflagen der so genannten Institutionen (EZB, EU-Kommission und IWF) wurde die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben. Das hatte zur Folge, dass es „auf breiter Front zu einem Lohnverfall und zum Anstieg unsicherer Jobs auf ein vorher nicht gekanntes Niveau“ kam, wie die griechische Arbeitsministerin Eftychia Achtsioglou auf der Veranstaltung erläuterte.


Schutz der Beschäftigten an erster Stelle

Soziales Europa Europa hat mit seinen über 550 Millionen Bürgerinnen und Bürgern und seiner Innovationskraft die Chance, die Standards für eine soziale, ökologische und demokratisch gestaltete Transformation in die Gesellschaft und Arbeitswelt von morgen zu setzen – wichtig allerdings ist, dass die Schutzinteressen der Beschäftigten konsequent vor den Binnenmarktinteressen stehen. Ein Ansatzpunkt hierzu könnte etwa die Einführung von Fachkammern für Arbeits- und Sozialrecht beim Europäischen Gerichtshof sein.

Weil Europa seine Stärke hauptsächlich aus der industriellen Wertschöpfung bezieht, ist eine koordinierte Industriepolitik dringend erforderlich. Dazu muss Jugendarbeitslosigkeit energisch bekämpft werden. In diesen Bereichen aber sind vor allem die nationalen Regierungen Europas gefragt. Sozial- und Beschäftigungspolitik gehören nach wie vor allein zu ihrem Kompetenzbereich. Solange das so ist, sind die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Investitionen voranzutreiben und für soziale Standards zu sorgen.

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